Miroslaw Wlekly: "Gareth Jones. Chronist der Hungersnot in der Ukraine 1932-1933"
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Hunger als Waffe
07:17 Minuten
Miroslaw Wlekly
Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel
Gareth Jones. Chronist der Hungersnot in der Ukraine 1932-1933Osburg Verlag, Hamburg 2022327 Seiten
26,00 Euro
Der polnische Autor Miroslaw Wlekly porträtiert den britischen Reporter Gareth Jones als ersten und unbestechlichsten Chronisten des ukrainischen Holodomor in den Jahren 1932-1933. Ein beklemmend aktuelles Buch.
Die Jahre um 1930 waren die ideologisch aufgewühlteste Phase des 20. Jahrhunderts. Der Kapitalismus steckte in seiner schwersten Krise, Liberalismus und Demokratie schienen ausgelaugt, Faschismus und Nationalsozialismus waren auf Erfolgskurs. Und alle starrten gebannt auf das große kommunistische Menschheitsexperiment im Osten.
Der 1905 geborene britische Journalist Gareth Jones war fasziniert von diesen Umbrüchen und schaffte es in seiner rasanten Karriere, in diverse Machtzonen vorzudringen. Er war ein vertrauter Mitarbeiter des britischen Ex-Premiers Lloyd George, begleitete Hitler und Goebbels Anfang 1933 im Wahlkampfflugzeug und verschaffte sich näheren Zugang zum Sowjetreich als jeder andere westliche Journalist dieser Jahre.
Der polnische Autor Miroslav Wlekly hat nun ein spannendes Buch über dieses Wunderkind des Journalismus geschrieben – das faszinierende Porträt eines Mannes, der überall dabei sein wollte, wo Geschichte gemacht wird. Berühmt ist Gareth Jones heute vor allem als erster und unbestechlichster Berichterstatter des Holodomor in der Ukraine, eine Leistung, die auch Wlekly in den Mittelpunkt rückt.
Bereits auf früheren Reisen in die Sowjetunion hatte Jones die sich zuspitzende Versorgungskrise festgestellt und seine anfängliche wohlwollende Sicht auf die Dynamik des sozialistischen Aufbaus revidiert. Er ließ sich nicht blenden von der Ideologie, nahm Armut, Unzufriedenheit und Verbitterung der Mehrheit der Menschen wahr, notierte den Terror und die Deportationen.
Ausgeplündert bis aufs letzte Korn
Die Zwangskollektivierung und die massive Verfolgung der selbständigen Kleinbauern, der Kulaken, sorgten für extreme Einbrüche bei der Nahrungsmittelproduktion. Da sich in der Weltsicht Stalins jeder Mangel durch das Wirken von Saboteuren und Klassenfeinden erklärte, waren die enteigneten Bauern selbst die Hauptschuldigen an der Misere. Um die Stadtbevölkerung und die Industrie-Arbeiter zu versorgen, wurden sie fortan von den Aktivisten und den Requirierungskommandos gnadenlos bis aufs letzte Korn ausgeplündert.
Während der Hungersnot wurde für ausländische Journalisten ein Reiseverbot in die ukrainischen Gebiete verhängt. Dank seiner guten Verbindungen schaffte es Jones, dieses Verbot zu umgehen. Mehr noch: Er wagte es, 60 Kilometer vor Charkiv den Zug zu verlassen und ging zu Fuß durch die Dörfer. Dort sah er ein kaum beschreibbares Elend und hörte noch Entsetzlicheres, etwa über den verbreiteten Kannibalismus unter den vom Hunger völlig demoralisierten und abgestumpften Menschen.
Das Komplott der westlichen Intellektuellen
Seine Berichte wurden zunächst von internationalen Zeitungen gedruckt und sorgten für Bestürzung. Dann aber kamen stalinfreundliche Gegendarstellungen, maßgeblich von dem damals hochangesehenen Star-Korrespondenten Walter Duranty, der in einem ganzseitigen Artikel der New York Times die Hungerkatastrophe bagatellisierte.
Seine lügnerische Willfährigkeit gegenüber der Sowjetunion verbindet ihn mit vielen westlichen Intellektuellen, die Terror und Tod unter Lenin und Stalin schönredeten, weil sie für die vermeintlich richtige Sache geschahen.
Eine bedrückende Lektüre
Wlekly will Geschichte nahebringen. Er schreibt oft szenisch und dialogisch, was manchmal ein wenig reißerisch wirkt. Zugleich vermittelt er aber auch gründliche historische Information.
Sein Buch ist eine bedrückende Lektüre, leider von beklemmender Aktualität. Gareth Jones wurde 1935 in der Mandschurei erschossen - nur einen Tag vor seinem 30. Geburtstag. Wahrscheinlich von einem Agenten des sowjetischen Geheimdienstes.