Tanguy Viel: Selbstjustiz
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Wagenbach Verlag, Berlin 2017
168 Seiten, 20 Euro
Wenn ein Mörder kein Täter ist
Zwei Männer stehen sich gegenüber in Tanguy Viels Roman "Selbstjustiz": Einer, der ständig verliert und einer, der als Hochstapler alles bekommt. Der Verlierer ermordet den Gewinner. Und was sagt der Richter dazu? Ein Buch, das den Leser in den Bann schlägt.
Nein, Tanguy Viels Kermeur ist kein Michael Kohlhaas, denn sein Mord an einem rücksichtslosen Spekulanten ist keine persönliche Rache. Selbstjustiz bleibt es trotzdem. Aber ist sie in diesem Falle auch strafbar?
Kermeur, der Ich-Erzähler, ist ein braver und harmloser Mann, dem alles danebengeht: Er verliert seine Arbeit, seine Abfindung und seine Frau, sein Sohn verachtet ihn und zu allem Unglück verpasst er einen hohen Lottogewinn.
Ausgefeilte, pointierte Sätze
Sein Gegenspieler ist der Immobilienspekulant Lazenec. Der gerissene Geschäftsmann will das schön gelegene, von allen nur "Schloss" genannte Herrenhaus auf der Halbinsel gegenüber der Hafenstadt Brest kaufen und daraus ein "bretonisches Saint Tropez" machen. Lazenec ist ein Mann "mit irgendwie rechtwinkligen Sätzen" und – "mit Plänen": Er verkauft Wohnungen, die es noch gar nicht gibt. Der Bürgermeister kauft sogar mehrere, und zwar mit öffentlichen Geldern.
"Gewalt und Brutalität haben sehr gut gelernt, wie man sich verkleidet", heißt es schon am Anfang. Lazenec, mit "grundsolidem Gesichtsausdruck" und energischem Denken, beherrscht das Vokabular der Verführung aus dem Effeff. Er säuselt etwas von "neuer Ära" und "Potenzial", von nötigem Glauben und Mut, von Entwicklung, Wertzuwachs und fantastischen Gewinnen: alles leeres Stroh. Es ist großartig, mit welch ausgefeilten, gewundenen, pointierten Sätzen der Autor nicht nur Kermeurs Erzählung, sondern auch Lazenecs Gefasel wiedergibt.
Geschichte über Ungerechtigkeiten und Schamlosigkeiten
Tanguy Viel wurde 1973 in Brest in der Bretagne geboren, wo auch die meisten seiner schmalen Bücher spielen. Sein erster Roman auf Deutsch "Unverdächtig" (2007) war eine packende Untersuchung zum Thema Verlierer-Gewinner. In "Selbstjustiz" nimmt er das Thema wieder auf. Am Anfang geschieht ein Mord, doch erstaunlicherweise empfindet man den Mörder nie als "Täter", auch weil es keine seit Langem geplante Tat war: Kermeur stößt den Spekulanten Lazenec wie beiläufig ins Meer und lässt ihn ertrinken. Er wird verhaftet und erzählt seine Geschichte dem zuständigen Untersuchungsrichter: die Geschichte vom Starken, der das Glück zum Freund hat, und vom Schwachen, dessen Begleiter das Pech ist.
Wie und auf welcher Grundlage der Richter schließlich entscheidet, wollen wir hier nicht verraten. Aber Kermeur hat ihn – wie uns Leser auch! – in den Bann geschlagen: mit einer Geschichte, die Ungerechtigkeiten und Schamlosigkeiten, aber auch die eigene Treuherzigkeit und Weltfremdheit so ruhig, elegant und packend schildert, dass wir nur den Hut ziehen können.