Takis Würger: "Unschuld"

Ein Krimi nach Blockbuster-Manier

06:28 Minuten
Cover des Romans "Unschuld" von Takis Würger
© penguin

Takis Würger

UnschuldPenguin, München 2022

304 Seiten

22,00 Euro

Von Miriam Zeh  · 27.10.2022
Audio herunterladen
Molly versucht, die Unschuld ihres Vaters zu beweisen. Hat sie gegen den Waffenlobbyisten eine Chance? An Takis Würgers Krimi überrascht wenig. Bemerkenswert dagegen das Nachwort mit Fakten zu aktuellen Themen. Soll das die Relevanz des Buches heben?
Diese Geschichte hat eigentlich alles, was ein Blockbuster braucht: Geld, Waffen, Mord, Schuld und Unschuld – schematisch aneinandergereiht. Für den größtmöglichen Effekt schwebt über allem sogar die Todesstrafe. Dabei ist Florentin Carver unschuldig, das weiß seine Tochter genau. Niemals hat er den Sohn seines Arbeitgebers, des mächtigen Waffenlobbyisten aus der US-amerikanischen Kleinstadt Rosendale, erschossen.

Gut gegen Böse

Also stellt Molly Carver eigene Nachforschungen an. Als "Hausmädchen" will sie in der Familie des Opfers ermitteln. Doch ihre Tarnung fliegt schnell auf und der skrupellose, steinreiche Funktionär der Nationalen Waffen-Vereinigung Jonathan Rosendale lässt die herzensgute, aus liebevollen, aber prekären Verhältnissen stammende Molly aus purem Sadismus noch ein paar Tage auf seinem Anwesen wohnen und herumrätseln.
Takis Würgers dritter Roman wird von grellen Gegensätzen zusammengehalten. Gut und Böse, Arm und Reich sind klar voneinander unterschieden. Die abgedichtete Sprache lässt kaum Platz für Ambivalenzen, wo sie nicht gleich selbst eine Erklärung für ihre Bilder oder Recherchefakten zu den eingestreuten Reizwörtern, wie Waffenlobby oder Todesstrafe, hinterherschiebt.

Wenig Überraschung

Überraschend ist an diesem Roman wenig. Am Ende kann Molly mit der Hilfe von Freunden und Familie selbstverständlich doch noch den wahren Täter ausfindig machen und die Unschuld ihres Vaters beweisen.
Bemerkenswert, wenn man sich für Funktionsweisen der Gegenwartsliteratur interessiert, scheint allein das Nachwort. Hier verweist Takis Würger auf die reale Welt: In Deutschland (wo der Roman zwar nicht spielt) sind 100.000 Menschen von der Huntington-Krankheit (einer unheilbaren erblichen Erkrankung des Gehirns) betroffen, die auch bei der zu Unrecht verurteilten Romanfigur Florentin Carver ausgebrochen ist. Sechs Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung sind medikamentenabhängig wie die Figur Molly Carver, und zwischen 2015 und 2020 griffen in den USA mindestens 2070 Kinder zu einer Waffe, wodurch 765 Menschen starben.

Relevante Fakten zur Story

Indem Takis Würger diese Fakten zitiert, reichert er seine Romanwelt mit mehr diskursiver Bedeutung an, als sie in ihrer literarischen Konstruktion hergäbe. Würgers vorheriger Roman „Stella“ basierte auf historischen Personen und Kontexten – der jüdischen Denunziantin Stella Goldschlag und der Stadt Berlin im Jahr 1942 –, zwängte die Geschichte jedoch in eine spannungsgetriebene und leicht konsumerable Storyline. Im Feuilleton hatte Würger damit eine Debatte über die Fiktionalisierbarkeit des Holocaust ausgelöst.
„Unschuld“ folgt nun einer anderen Strategie. Das faktengesättigte Nachwort des Romans suggeriert, Lesende hätten gerade nicht etwa einen wenig originellen Unterhaltungsroman weggeschmökert, sondern durch die Lektüre an gesellschaftspolitisch relevanten Debatten über seltene Krankheiten, das US-amerikanische Gesundheitssystem und Waffengesetzgebung im Land der Freiheit teilgenommen.

Relevanz durch Diskurse

In einer wirklichkeitshungrigen Gegenwart wie unserer ist das ein erfolgsversprechendes Verfahren. Die Relevanz eines Romans ergibt sich nicht aus der Literatur selbst heraus, sondern aus den Diskursen, auf die sie verweist. Dabei soll die Lektüre nichts verkomplizieren, sondern uns Lesende – vor allem in ethischen Fragen – der richtigen Seite vergewissern.
Man kann dieses Phänomen mit Hilfe der Literaturwissenschaft als „Midcult“ bezeichnen wie Moritz Baßler oder von der Literatur als „Post-Discipline“ sprechen wie Merve Emre. Man kann zur Einordnung aber auch einfach auf Vergleichsgrößen hinweisen. Der Thriller-Erfolgsautor Sebastian Fitzek verfährt in seinen Romanen nämlich ganz ähnlich, wenn er seine Figuren zuerst seitenlang gefoltert, vergewaltigt und ermordet werden lässt, um dann im Nachwort auf reale Kriminalstatistiken und sein Engagement für Opfer häuslicher Gewalt hinzuweisen. Er dürfte Takis Würger für seinen neuen Roman zum Vorbild gestanden haben.
Mehr zum Thema