Tagebuch des russischen Schriftstellers

Wie Michail Prischwin die Sowjetunion protokolliert hat

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Der russisch-sowjetische Schriftsteller Michail Prischwin
Flaschenpost an die nachkommenden Generationen: Insgesamt vier Bände des Jahrzehnte umfassenden Tagebuchs von Michail Prischwin sollen auf Deutsch erscheinen. © Guggolz Verlag
Sebastian Guggolz im Gespräch mit Andrea Gerk · 13.11.2019
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Michail Prischwin ist ein Klassiker der russischen Literatur und war in der DDR als Kinderbuchautor sehr bekannt. 50 Jahre lang führte er Tagebuch – und zeichnete minutiös Ereignisse und Gedanken auf. Der erste Band ist nun auf Deutsch erschienen.
Michail Prischwin ist ein Klassiker in der russischen Literatur, seine Texte stehen in Schulbuch dort. 1873 ist er in Zentralrussland zur Welt gekommen, später hat er in Jena und Leipzig studiert. 1954 starb Prischwin in Moskau. Der Berliner Verleger Sebastian Guggolz hat bereits Prischwins Prosatext "Der irdische Kelch" herausgegeben - und jetzt ein editorisches Großprojekt begonnen: In vier Bänden sollen die Tagebücher des Schriftstellers erscheinen. Band eins ist bereits veröffentlicht.
Prischwin sei in der DDR vor allem als Kinderbuch- und Naturautor sehr bekannt gewesen. "Allerdings kannte man den anderen Prischwin, den ich mit dem 'irdischen Kelch' und jetzt den Tagebüchern vorstellen will, so nicht." Den habe man aber auch in Russland erst ab Mitte der 80er-Jahre entdeckt, so Guggolz. Er sei auch zuerst auf die Kinder- und Naturbücher gestoßen. Die Naturbücher habe er stilistisch fantastisch gefunden und habe Evelin Passet angesprochen, ob sie sich vorstellen könne zu übersetzen. "Sie machte mich auf diesen anderen Prischwin aufmerksam, den man bis dahin nur auf Russisch lesen konnte."

"Vier Pflöcke einrammen an wichtigen Daten"

Das Außergewöhnliche sei, dass Prischwin über 50 Jahre lückenlos Tagebuch geführt habe, von 1905 bis zu seinem Tod 1954, erklärt Guggolz. Das russische Original umfasst 18 Bände. Das auf Deutsch herauszubringen, sei nicht zu leisten, so der Ein-Mann-Verleger. Deshalb sei die Entscheidung gefallen, "vier Pflöcke einzurammen, an wichtigen Wendepunkten oder wichtigen historischen Daten". Der erste Band umfasse die Jahre 1917, das Revolutionsjahr, bis 1920, die unmittelbare Nachrevolutions- und Bürgerkriegszeit.
Das Faszinierende an dem im Geheimen und damit ohne Restriktionen geführten Tagebuch sei, so Guggolz: Es enthält neben historischen Ereignissen Protokolle seines Alltags und seiner Gedanken. "Er schreibt auf, was er auf der Straße aufschnappt; und was die Frau, die sein Haus verwaltet, ihm so erzählt über das, was da draußen so passiert."

Schreiben für die Nachkommen

Prishwin sei eine Art von singulärer Gestalt, meint Guggolz. Man kenne inzwischen – auch durch Wiederentdeckung – viele Autoren, die ins Exil gegangen sind; außerdem viele Opfer des Stalinismus und der Sowjetunion insgesamt. Prischwin habe sich angepasst, keine Dinge veröffentlicht, die schwierig waren und habe deshalb in der Sowjetunion bleiben können. "Durch die Tagebücher sieht man aber jetzt, was er eigentlich dachte. Dass er schon deutlich stärker in eine Art inneres Exil gegangen ist, dass er sich seine wahre Meinung fürs Tagebuch aufgehoben hat."
An einer Stelle in einem späteren Tagebuchband schreibt Prischwin, er schreibe eigentlich für die nachkommenden Generationen; und dass er sich wünscht, dass er über das, was er erlebt, nur noch lesen muss. "Das ist eine gigantische Tat, dass er das alles festhält und uns sozusagen als Flaschenpost überliefert."
Die Arbeit an den Tagebüchern sei toll gewesen, erzählt Guggolz. Er habe dabei immer wieder gedacht: "Das muss veröffentlicht werden!" Denn das sei "ein Baustein zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, den man so nirgends anders kriegt".
(abr)
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