Tagebuchschreiben

Frei von der Leber weg

Eine Person mit dunkel lackierten Fingernägeln hält ein orangenes Tagebuch über blauem Hintergrund.
Das Tagebuchschreiben gleicht für unseren Autor einem Exorzismus, mindestens aber einer Gedankenentgiftung © Getty Images / Olena Ruban
Von Lukas Gedziorowski |
Man schreibt wieder Tagebuch. Damit es nicht zu schwer ist, gibt es entsprechende Bücher mit Hilfestellungen. Doch das geht am Sinn der Erfindung vorbei. Ein Plädoyer für den unoptimierten, ungefilterten Schreibfluss.
Tagebuchschreiben ist wieder in, heißt es. War es eigentlich jemals out? Der Nutzen liegt ja auf der Hand. Das ganze Netz dient heute als unendlicher Speicher persönlicher Seelenergießungen. Doch selbst in der analogen privaten Schreibstube haben sich die Zeiten geändert. Statt „Liebes Tagebuch“ und Zahlenschloss macht man es heute effizienter.
Das angeblich meistverkaufte Diarium ist derzeit „Das 6-Minuten-Tagebuch“. Es verspricht „Mehr Lebensfreude“ schon auf der Banderole. Und für knapp 28 Euro sollte es schon was taugen. Für sein Geld bekommt man „feinstes französisches Leinen“, CO₂-neutral, vegan und angeblich sind darin nicht nur Papier, sondern „komplexe Forschungsergebnisse“ und „praxiserprobte Prinzipien der positiven Psychologie“ gebündelt.
Das Positivste: Es verlangt einem nur sechs Minuten pro Tag ab. Drei Minuten morgens, drei Minuten abends. Und es konzentriert sich nur auf das Gute. Wofür man dankbar ist (drei Zeilen). Wie man für einen guten Tag sorgt (vier Zeilen). Positive Selbstbekräftigung (zwei Zeilen). Auch was man Gutes für andere getan hat und was man heute gelernt hat, muss mit jeweils zwei Zeilen auskommen. Kant’sche Sätze und tiefere Einsichten in das, was die Welt im Innersten zusammenhält, passen da nicht rein.
Dafür darf man drei tolle Dinge nennen, die man erlebt hat. Dazwischen steht ein kurzer kluger Kalenderspruch, etwa von Marc Aurel, als Inspiration. Der bietet aber auch schon die einzige Abwechslung in diesem Buch, das sich sonst bald anfühlt wie eine immergleiche Hausaufgabe am Murmeltiertag.

Tagebuch für alle Gefühlslagen

Doch fürs Genervtsein und Langeweile sowie Sorgen, Ängste und Nöte ist in diesem „Glückstagebuch“ nur einmal im Monat ein wenig Platz. Das ist nichts für Plaudertaschen und Literaten, die mal eine Werkausgabe damit füllen wollen. Aber wer hat heutzutage schon Zeit für den seelischen „Deep Dive“, wenn man – neben Sozialleben, Sport und Selbstoptimierung – unbezahlte Überstunden für die Konjunktur machen muss?
Ich merk schon: Für so einen positiven Ansatz bin ich wohl mal wieder zu negativ. Dabei soll die Methode ja wirken. Soundsoviele Millionen glückliche Sechs-Minuten-Diaristen können ja schwerlich irren, oder? Mehr Optimismus und Selbstliebe, das klingt ja schön und gut, aber so wie ich das Leben in gerade mal 40 Jahren bisher verstanden habe, besteht es doch auch aus ein bisschen mehr. Um es mit Beckett zu sagen: Es ist kein reines Vergnügen. Sich nur auf Ungemach zu konzentrieren, hilft natürlich auch nicht dabei, es zu meistern. Aber sicher wäre es gesünder, hin und wieder beide Seiten zu examinieren – allein schon der Ausgeglichenheit halber.

Tagebuch als Kotzkübel

Ich schreibe auch gerne Tagebuch. Am liebsten auf viele leere Linien. Und wie es mir gerade einfällt. Tagebücher sind keine Handschmeichler oder Streicheleinheiten fürs Ego, es sind Kotzkübel. Statt in teures feinstes Leinen zu investieren, reicht ein billiges, aber stabiles Notizheft, in das man jeden Tag schmiert, was einem auf der Seele brennt. Wer einen auf die Palme gebracht hat, was einem Magenschmerzen bereitet, was einen traurig macht und ja, auch – nicht vergessen! – was schön ist, wer einen zum Lachen gebracht hat und was Hoffnung macht, worauf man sich freut.
Und dann, wenn man sich den ganzen Mist von der Seele geschrieben hat, bis einem nichts mehr einfällt, dann schmeißt man befriedigt den Deckel darauf, wirft das Tagebuch in die Schublade, schließt am besten ab und tut so, als hätte man einen Exorzismus betrieben. Alle bösen Geister, die einen sonst plagen, sind fürs Erste gebannt – man kann sich ins Bett legen und ruhiger schlafen. Früher oder später kriechen sie zwar wieder hervor, aber dann wiederholt man die Prozedur und gibt ihnen wieder Saures.

Nabelschau zur Selbstoptimierung

Es gibt eben mehr Gefühle als Dankbarkeit und Freude. Natürlich hat der Markt auch dafür die entsprechenden Produkte hervorgebracht. Etwa Bücher mit Checklisten, in denen man aus einem ganzen Füllhorn an Gefühlen wählen kann. Man kann seinen Energie- und Stresspegel in Zahlen angeben und auch Buch darüber führen, ob man genug Wasser getrunken und Obst oder Gemüse gegessen hat. Gesundes Leben ist ja so wichtig! Aber möchte man, wenn man zu oft „Nein“ angekreuzt hat, den Stresspegel gleich wieder nach oben korrigieren? Reicht es nicht, sich zum Schrittmesser und Blutdruckmesser in der Smartwatch auch noch mit einem „Stimmungstracker“ zu belasten? Ist diese ständige Nabelschau zur Selbstoptimierung nicht gerade das, was uns am meisten stresst?
Und schon hat man den ersten Gedanken fürs Tagebuch. Es sollte keine weitere Pflicht sein, sondern Entlastung. Sie sollte der Seelenhygiene dienen, der Gedankenentgiftung, dem emotionalen Stuhlgang. Statt Hirn und Leber mit Alkohol zu ruinieren, lieber frei von der Leber weg schreiben, ganz ohne Reue und so viel man mag. Oder auch nicht, wenn man keinen Bock hat. Ein Tagebuch ist höchst privat. Man schreibt nur für sich. Man ist keinem was schuldig und es geht keinen etwas an. Liest ja eh keiner. Hoffentlich. Höchstens nach dem Tod. Aber dann sollte es für die Nachfahren unterhaltsamer sein als Checklisten und ausgefüllte Fragebögen.
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