Tag des Ehrenamtes

Dienst an der Gesellschaft oder Ausbeutung?

08:22 Minuten
Eine Frau hält bei der Münchner Tafel ein Brot in der Hand
Die Tafeln erleben einen immer größeren Zulauf armer Menschen, die dort kostenlos Lebensmittel erhalten. © picture alliance / dpa / Sven Hoppe
Tine Haubner im Gespräch mit Ute Welty · 05.12.2022
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Ehrenamtliches Engagement ist lobenswert, es hat aber auch problematische Seiten. Die Soziologin Tine Haubner zeigt auf, wie häufig ehrenamtliche Helfer dort einspringen, wo eigentlich der Staat zuständig wäre – und dadurch auch überfordert werden.
Mit Sorge beobachtet die Soziologin Tine Haubner, dass ehrenamtliche Tätigkeiten häufig Lücken in der staatlichen Daseinsvorsorge ausgleichen. Bei der Arbeit an ihrem Buch "Community Kapitalismus" hat sie festgestellt, dass es dafür zahlreiche Beispiele gibt.
Es gehe ihr nicht darum, das Engagement oder die Ehrenamtlichen selbst zu kritisieren, betont Haubner: "Das, was die Leute machen, ist häufig eine ganz tolle und ganz wichtige Arbeit – und genau da fängt das Problem an."

Wo es in der Gesellschaft klemmt

Viele Freiwillige gingen über ihre Grenzen hinaus und würden überfordert. "Das Engagement weist uns auch immer darauf hin, wo es klemmt", sagt Haubner. Es sei ein wichtiger Seismograf in der Gesellschaft.
Viele ländliche Kommunen hätten Probleme mit dem öffentlichen Nahverkehr. "Deshalb sprießen seit vielen Jahren Initiativen wie Bürgerbusse aus dem Boden." Auch in Bibliotheken seien viele Ehrenamtliche tätig.
Neben diesem freiwilligen Engagement von Bürgern finde sich Vergleichbares aber auch bei der gesetzlichen Betreuung von Scheidungsfamilien und deren Kindern. Eigentlich liege diese Aufgabe in der Verantwortung der Landratsämter, werde aber immer häufiger von ehrenamtlichen Helfern übernommen.

Kein Ersatz für Erwerbsarbeit

"Das haben wir mehrfach gefunden, dass dann zum Beispiel beim Kinderschutzbund in der Kommune Freiwillige, sogenannte Familienpaten, auf der Basis von 7,50 Euro Aufwandsentschädigung die Stunde genau diese Betreuungsarbeit übernehmen", so Haubner. Sie betreuten den Kontakt der Kinder zu deren Eltern. "Das ist ein sehr, sehr anspruchsvolles Engagement."

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Ähnliche Fälle gebe es in der Flüchtlingsarbeit oder Altenpflege. Dabei sollten solche Tätigkeiten eigentlich aus Steuern finanziert werden. "Die Breite, in der man das beobachten kann, das ist schon sehr erstaunlich", sagt die Soziologin. Dabei sollte ehrenamtliches Engagement eigentlich zusätzlich sein und nicht Erwerbsarbeit ersetzen.
Das werde auch dadurch unterlaufen, dass die Politik das Ehrenamt massiv bewerbe, kritisiert Haubner: "Das Engagement ist mittlerweile ein Stützpfeiler der Wohlfahrtsproduktion geworden, und dabei werden permanent Grenzen überschritten."

Die Tafeln als Lückenbüßer

Dem Vorwurf an die Tafeln, sie würden das Elend der Betroffenen verlängern, kann die Soziologin deshalb durchaus etwas abgewinnen: Durch die Tafeln würden materielle Versorgungslücken gestopft, die eigentlich darauf hinwiesen, dass die Grundsicherung in unserem Sozialstaat nicht ausreiche, um ein würdiges Leben zu führen. Inflation und steigende Armutsrisiken verschärften diese Situation.
Dadurch seien die Tafeln längst viel mehr als ein zusätzliches Angebot der Armutslinderung. "Sie sind essentiell, um über die Runden zu kommen", so Haubner. Zudem engagierten sich bei den Tafeln häufig die eigenen Kunden, die selbst von Armut betroffen seien. Dadurch gebe es ein "Arme-helfen-Armen-Muster". Die Grenze zwischen Ehrenamt und Ausbeutung sei dabei fließend.

Silke van Dyk und Tine Haubner: "Community-Kapitalismus"
Hamburger Edition 2021,
176 Seiten, 15 Euro

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