Symbolgestalten Lateinamerikas

Der Verleger Heinrich von Berenberg im Gespräch mit dem Schriftsteller Hans-Christoph Buch, Moderation: Maike Albath |
Der Argentinier Che Guevara und der Kolumbianer Hector Abad gehörten zu den Lichtgestalten Lateinamerikas. Beide entstammten der Oberschicht ihres Landes, waren Mediziner und verfolgten eine Mission - wenn auch eine ganz unterschiedliche. Die Bücher "Brief an einen Schatten" und "Traumpfade der Weltrevolution" befassen sich mit diesen Personen der Zeitgeschichte.
Maike Albath: Herzlich willkommen. Im Mittelpunkt von unserem politischen Buchmagazin Lesart steht heute Lateinamerika. Es soll um zwei Symbolgestalten gehen, den Argentinier Che Guevara und den Kolumbianer Hector Abad. Beide gehörten zur Oberschicht ihrer Länder. Beide wurden Mediziner. Beide waren überzeugt von ihren Missionen, die allerdings unterschiedlicher nicht hätten sein können. Und beide starben einen gewaltsamen Tod.

Che Guevara wurde zum Märtyrer und später dann zur Pop-Ikone stilisiert, auch auf internationaler Ebene. Er war ein Weggenosse von Fidel Castro. Er hat in der kubanischen Revolution gekämpft. Er war Minister in Kuba und wurde dann später ein Revolutionsexporteur, ging in den Kongo und nach Bolivien, wo er von bolivianischen Truppen erschossen wurde 1967.

Abad war einer der wichtigsten Ärzte der Region. Er war ein streitbarer Intellektueller, hat sich immer wieder zu Wort gemeldet, hat an der Universität gearbeitet und hat medizinisch ungeheuer viel erreicht für sein Land. Er wurde 1987 auf offener Straße erschossen. In seiner Heimat war er lange vergessen. Bei uns ist er vollkommen unbekannt.

Gerade herausgekommen sind Erinnerungen an Hector Abad, verfasst von seinem Sohn, der denselben Namen trägt. "Brief an einen Schatten - eine Geschichte aus Kolumbien" heißt der Band. Eine Demontage des Guevara-Mythos unternimmt der Frankfurter Historiker Gerhard Koenen in seiner Studie "Traumpfade der Revolution - das Guevara-Projekt".

Über beide Bücher wollen wir jetzt diskutieren. Dazu begrüße ich im Studio Heinrich von Berenberg, der vor fünf Jahren den Berenberg Verlag gegründet hat. Und er hat jetzt den "Brief an einen Schatten" von Hector Abad herausgebracht, ein Vorwort dazu geschrieben. Und er hat den Schriftsteller im letzten Jahr in Medejin besucht. Guten Tag, Herr von Beerenberg.

Heinrich von Berenberg: Guten Tag.

Maike Albath: Der zweite Gast ist Hans Christoph Buch, Publizist, Schriftsteller, Lateinamerikakenner. Zuletzt ist von ihm der Roman "Sansibarblues" erschienen und eine Sammlung mit Reportagen über Lateinamerika, "Das rollende R der Revolution". Guten Tag, Herr Buch.

Hans Christoph Buch: Ja, guten Tag.

Maike Albath: Der Kolumbianer Hector Abad, Gormez heißt er mit vollständigem Namen, war ein Seuchenforscher. Er war einer der ganz großen Pioniere der Medizin in seinem Land und auch ein sehr einflussreicher Intellektueller. 87 wurde er dann von Paramilitärs auf offener Straße erschossen. Heinrich von Berenberg, die südamerikanische Oberschicht ist ja eigentlich oft sehr oligarchisch. Man versucht vor allem sich selbst zu versorgen und engagiert sich wenig für sein Land. Das ist jetzt bei Hector Abad ganz anders gewesen. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Heinrich von Berenberg: Es gibt eine relativ einfache Erklärung, die sicherlich nicht ganz vollständig erklärt, was aus ihm geworden ist, aber zumindest zum Teil. Kolumbien ist ein Land, das wie viele Länder Lateinamerikas, aber in diesem Fall ganz besonders, jahrhundertlang von Bürgerkriegen immer zwischen Liberalen und Konservativen zerrissen worden ist. Hector Abad Gomez stammt selbst aus einer väterlicherseits liberalen Familie. Sein Vater war ein - wenn Sie so wollen - klassischer Großgrundbesitzer, der eine Finca von seinen Vorfahren übernommen hat, die es heute noch gibt, die heute noch der Familie gehört. Sein Sohn ist, nachdem 1948 die Gewalt in Kolumbien wieder extrem aufgeflammt ist, von seinem Vater - gewissermaßen lebensrettend - nach Nordamerika zum Studium geschickt worden. Er hat studiert in Minnesota, glaube ich, im mittleren Westen. Er hat dort Epidemiologie und öffentliche Medizin studiert. Und er ist zurückgekommen zu einem Zeitpunkt, als man in Kolumbien wieder leben konnte, als er in Kolumbien wieder leben konnte. Das hat ihm gewissermaßen das Leben gerettet. Viele aus seiner Familie sind in dem Bürgerkrieg, der zwischen 1948 und 1958 getobt hat, umgekommen. Er hat es überlebt und konnte dadurch ein bedeutender Mann werden.

Maike Albath: Hans Christoph Buch, es ist ja auch die Rede davon, wie sich dieser Vater von Hector Abad Senior, also der Mediziner, dann politisch orientiert hat. Er hat an einen südamerikanischen Sozialismus geglaubt. Was war das genau und was hat er für sein Land dann bewirkt in seinem Beruf?

Hans Christoph Buch: Zunächst mal muss man hier auseinanderhalten. Wir sprechen hier über drei Abads und vermischen die in unklarer Weise miteinander. Der Großvater hat den Vater zum Studium in die USA geschickt. Der Sohn hat ein Buch über den ermordeten Vater geschrieben - viel später. Er brauchte Jahre, um diesen Mord zu verarbeiten innerlich. Dieser Mord fällt in die Zeit des Drogenkriegs, der nicht identisch ist mit der Zeit der Violencia der 40er Jahre. 1948 war ein Schlüsseljahr der Bogotazo. Das war ein bewaffneter Aufstand oder vielmehr die Niederschlagung eines Aufstands mit Tausenden von Toten, der Kolumbien bis heute traumatisiert hat.

Und dann kam der noch schlimmere Drogenkrieg in den 70er und 80er Jahren. All das erweckt den Eindruck, als sei Kolumbien ein vollkommen chaotisches zerfallendes Land, wie etwa Haiti, das ich sehr gut kenne - ist aber überhaupt nicht vergleichbar. Kolumbien hat gleichzeitig merkwürdigerweise eine demokratische Tradition, das hat Herr von Beerenberg auch in seiner Einleitung deutlich gemacht, mit Wurzeln in Europa, in Spanien, oder auch, wie bei der Familie Abad, im Libanon im Nahen Osten, auch das ist nichts Ungewöhnliches in Lateinamerika.

Sie gehörten gerade nicht zur ganz reichen Oligarchie. Jedenfalls hab ich nicht den Eindruck nach der Lektüre. Sie gehörten eher zur Mittelklasse - mit Verbindungen zur Oligarchie. Das heißt, sie hatten auch ein Landgut, aber es waren keine Großgrundbesitzer.

Ähnlich, wie der junge Che Guevara, der aus einem ähnlichen Milieu kommt, hat er sich politisch oder - besser gesagt - moralisch verpflichtet gefühlt, etwas für die Armen zu tun. Aber er geht den entgegengesetzten Weg von Che Guevara. Er will Reformen. Er will Demokratie. Er will keine Gewalt, von der es in Kolumbien schon mehr als genug gegeben hatte, übrigens viel schlimmer als in Argentinien, wo die Gewalt - jedenfalls zur Zeit von Perron und früher - nicht so ausgeprägt war, wie in Kolumbien.

Deshalb also ein Reformist, wir würden heute sagen Sozialdemokrat, obwohl er, wie viele Lateinamerikaner auch eine zeitlang mit der Sowjetunion sympathisierte - aus Unkenntnis, muss man sagen, aus der Distanz heraus. Als er dann mal hin fuhr in die Sowjetunion kam er schockiert und sozusagen geheilt, desillusioniert zurück. Der Sohn wiederum ist ein Literat, ein Schriftsteller, einer, der versucht seinem Vater gerecht zu werden. Das Buch ist auch deshalb interessant, weil es gerade nicht die Abrechnung mit dem bösen Vater ist, die wir aus der deutschen Literatur kennen - etwa mit dem Nazivater oder auch mit dem kommunistischen Vater in der DDR -, sondern eine Liebeserklärung an einen Vater, der in jeder Hinsicht ein freundlicher, sanfter Mensch war und genau das auch für sein Land wollte. Freundlichkeit anstelle von Gewalt.

Maike Albath: Es ist ein sehr berührendes Buch, gerade, weil es so persönlich ist und ein Porträt dieses Vaters zeichnet, der sehr engagiert war, aber auch sehr frei in seinen ganzen Verhaltensweisen. Er war ungewöhnlich in seiner Art und Weise, weil er nicht dieses Machotum zur Schau trug, was in Kolumbien sonst erwartet wird. Und er war eben jemand, der immer eine moderierende Funktion einnehmen wollte, der an die Freiheit geglaubt hat und sich auch viele Feinde gemacht hat. Heinrich von Berenberg, und zwar von rechter und von linker Seite. Warum hatte er dann an einem bestimmten Punkt in den 80er Jahre, Herr Buch hat es ja gerade sehr schön dargestellt, keine Möglichkeit mehr, an diesen Überzeugungen so festzuhalten, wie er das wollte? Warum wurde er so angegriffen?

Heinrich von Berenberg: Das ist für mich gar nicht einfach zu sagen. Ich kenne es auch nur aus dem Buch heraus. Und wenn man es liest, kann man sich das gar nicht von hier aus vorstellen, wie so etwas möglich ist - Sie haben es beschrieben -, wie ein so sanfter Mensch, der eigentlich nichts anderes im Schilde führt, als die Verbesserung seines Landes, und zwar nicht einmal die Verbesserung seines Landes unter politischen Gesichtspunkten, sondern er ist ein Arzt gewesen und er hat sein Leben lang für die Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesen, also, für klareres Wasser, für sauberes Wasser, für die Verringerung der Kindersterblichkeit, für saubere Milch, für solche Sachen gewirkt.

Es ist auch für mich nach wie vor, auch wenn man heute nach Kolumbien fährt, umso weniger verständlich, wie noch vor 20, 25 Jahren ein Mensch allein deswegen angefeindet werden konnte, weil er gesagt hat: Dieses ist meine Arbeit, ist ein öffentliches Projekt. Es ist ein Projekt nicht für Einzelne. Es ist ein Projekt für die Gesellschaft. Es ist ein Projekt, was vielen nutzen soll. Es ist ein Projekt - das ist wahrscheinlich der springende Punkt -, von dem vor allem natürlich die Armen profitieren. Denn darum ging es. Die Kindersterblichkeit ist zur Zeit, als er angefangen hat in Medejin, enorm gewesen. Medejin ist eine Riesenstadt. Hector hat es mir erzählt. Als er geboren wurde, gab es noch keine funktionierende Kanalisation. Also, man kann sich vorstellen, wie es ausgesehen hat. Aber allein die Tatsache, das er gesagt hat, wir müssen hier etwas verbessern, was den breiten armen Schichten zugute kommt, das hat ihm wahrscheinlich im Endeffekt das Leben gekostet.

Maike Albath: Haben Sie eine Erklärung für diese plötzlichen Radikalisierungen, die dann immer wieder in der Gesellschaft eingesetzt haben, Christoph Buch?

Hans Christoph Buch: Ja, ich glaube, das ist gar nicht so schwer zu verstehen. Man muss sich nur Mexiko vor Augen führen, wo in diesen Tagen und Wochen und Monaten derselbe Drogenkrieg tobt, der Kolumbien fast zugrunde gerichtet hat. Und Haiti, meine zweite Heimat, ist auch von diesem Drogenkrieg heimgesucht worden mit einer Welle von Entführungen und Morden, die sich selbst die Bürger dieses Landes kaum erklären konnten. Das liegt daran, dass plötzlich die Drogen zu einem Wirtschaftsfaktor Nr. 1 werden und die Drogenmafia sozusagen der Regierung den Krieg erklärt. Wenn die Regierung nicht bereit ist, auf dem Weg der Korruption und des Filzes, der da überall bekanntlich in dieser Region weit verbreitet ist, mit der Mafia zusammenzuarbeiten, dann kriegt sie Ärger. Die Mafia unterhält so eine Art stehendes Heer, vergleichbar den Kindersoldaten in Afrika. Es sind nämlich Jugendliche, die diese Morde begehen, oft halbe Kinder, bezahlte Killer, die auch den Abad umgebracht haben.

Und dann, muss man wissen, gibt es noch zwei Faktoren, die typisch sind für Kolumbien - auf der einen Seite die Guerilla, die Farc, aber auch M19 und andere Bewegungen, die den bewaffneten Kampf propagierten, übrigens auch unter dem Eindruck von Che Guevara, der das ja sozusagen verkörpert hatte, und dann die Gegenbewegung, die Paramilitärs, die selbst wiederum mit der Drogenmafia verfilzt sind. Die haben Hector Abad auf die Mordliste gesetzt. Sie bezeichneten ihn als nützlichen Idioten der Kommunisten. Das heißt, sie haben sehr wohl wahrgenommen, das war gar kein militanter Linker, das war ein Liberaler, der Reformen wollte. Aber für sie war das eine Marionette der Kommunisten oder Wasser auf die Mühle der Kommunisten, denn er wollte die Situation der Armen verbessern und all das. Und so geriet er auf die Mordliste.

Im Übrigen war das eine Zeit, in der täglich Morde passierten. Die meisten davon, über 90 %, wurde nie aufgeklärt. Genau das erlebt derzeit Mexiko. Das ist gar nicht so unverständlich, obwohl natürlich für jeden, der diese Länder bereist, es zunächst mal ein Schock ist. Man trifft auch immer wieder Gesprächspartner, die einem selbst den Eindruck vermitteln, sie können es sich nicht erklären, was in ihrem Land schief gelaufen ist. Schließlich stellen wir uns diese Frage auch, wenn wir an die Nazi-Zeit zurückdenken. Was war eigentlich passiert in Deutschland, dass plötzlich solche barbarischen Massenmorde wie der Holocaust möglich waren.

Maike Albath: Heinrich von Berenberg, wird denn heute an Hector Abad, an den Mediziner, den Vater des Schriftstellers, erinnert? Hat sein Buch bestimmte Reaktionen auch in Kolumbien hervorgerufen?

Heinrich von Berenberg: Oh ja, das Buch hat sehr gewirkt. Es ist 2006, im Jahr, als es erschienen ist, für Monate auf dem ersten Platz der Bestsellerlisten gestanden. Das sind natürlich Zahlen, die relativ sind, aber das Buch ist unendlich viel gelesen worden. Es ist auch etwas sehr Schönes. Die Wirkung eines solchen Buches ist in diesen Ländern immer sehr direkt. Das heißt, man liest nicht nur das Buch und findet es gut oder findet es schlecht, sondern, wenn man dieses Buch gut findet, dann findet man den Autor gut. Der Autor wird eine wichtige Person. Der Autor wird eingeladen. Der Autor wird herumgereicht. Der Autor soll etwas dazu sagen. Das ist etwas sehr Schönes. Das Buch hat eine große Wirkung gehabt.

Maike Albath: Und Hector Abad zählt heute zu den Stimmen, die in Kolumbien immer wieder eine Rolle spielen. Er publiziert in vielen Zeitungen, wird gefragt zu Problemen und darf sich äußern.

Wir sprachen über das Buch von Hector Abad, "Brief an einen Schatten - eine kolumbianische Geschichte", aus dem Spanischen übersetzt von Sabine Giersberg, erschienen im Berenberg Verlag.

Hans Christoph Buch und Heinrich von Berenberg, eine ganz andere Gestalt ist, wir haben ihn jetzt schon erwähnt, auch einen ganz anderen Weg geht Che Guevara. Er ist in einer Familie von Bohemiens aufgewachsen, war der Weggenosse von Fidel Castro. Es gibt ein sehr dickes Buch von Gerhard Koenen, eine Studie über dieses "Guevara-Projekt", wie er es nennt. "Traumpfade der Weltrevolution" heißt es. Wie nähert sich der Frankfurter Historiker, Hans Christoph Buch, dieser Gestalt? Er will ja diese Pop-Ikone offensichtlich auch ein wenig demontieren.

Hans Christoph Buch: Ja, Gerhard Koenen ist ja mit Büchern über die RAF hervorgetreten, also die Rote-Armee-Fraktion, und über den Stalinkult und andere Führerkulte des 20. Jahrhunderts. Und er nähert sich mit der gebotenen Respektlosigkeit der Gestalt von Che Guevara, respektlos deshalb, weil man ihn vielleicht zu viel respektiert und geliebt hat in den letzten Jahrzehnten, ohne genau hinzugucken, was der Mann eigentlich gesagt, geschrieben und getan hat, und vor allem, was ihm vorschwebte als "Welterlösungsprojekt".

Ich erinnere nur daran, dass er den Abzug der sowjetischen Raketen aus Kuba zur Zeit der so genannten Kubakrise, also unter Kennedy und Chruschtschow, als "Verrat" empfand und damals den Satz äußerte: "Es wäre besser, Kuba wäre untergegangen in einem nuklearen Inferno, aus dessen Asche dann die Weltrevolution erstehen soll." Man kann das kaum fassen, dass er das ernsthaft gesagt hat, aber er war wirklich bereit, alles zu opfern für die Weltrevolution, einschließlich sich selbst. Das macht ihn ja auch wieder so glaubhaft und sympathisch, dass er in Bolivien dann diesen Märtyrertod starb. Aber der Slogan "schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam" war auch nicht gerade ein Beispiel von politischer Vernunft.

Ganz unabhängig davon muss man auch mal dran erinnern: Che Guevara hat in Kuba die ersten Lager für Homosexuelle mit eingerichtet, mit dem Argument: "Das sind zwar keine Feinde der Revolution, aber sie sollen trotzdem zur Umerziehung in Lager, denn" - die Formulierung muss man sich mal vorstellen - "sie beschmutzen die Reinheit der Revolution". Also, ein fast katholisches Denken, das man sowieso in Lateinamerika immer im Hinterkopf haben muss, die Prägung aus der Kirche und dann auch das Machotum aus Argentinien kommend. Argentinien ist ein besonders machogeprägtes Land, auch mit einem gewissen Militarismus. In seiner Jugend hatte Che Guevara, wie übrigens viele spätere Linke, durchaus auch mit Nazideutschland sympathisiert. Warum? Weil Nazideutschland der Feind der Feinde Lateinamerikas war. Also, die großen Kolonial- oder Imperialmächte USA, England, Frankreich, Spanien waren ja aus lateinamerikanischer Sicht nach wie vor Gegner. Und der dumme Slogan "der Feind meines Feindes ist mein Freund" hat auch da Gültigkeit. Obwohl Che Guevara ganz gewiss kein Faschist war, überhaupt nicht. Aber militaristische Züge gibt es schon in seinem Denken.

Maike Albath: Heinrich von Berenberg, Gerhard Koenen ist ja jetzt nicht irgendwer, sondern er hat selbst eine Vergangenheit, die eng verknüpft ist mit dieser linken Utopie. Er war ein Maoist. Spürt man diese Haltung in dem Buch?

Heinrich von Berenberg: Ich finde, man spürt sie schon ein bisschen. Dieses Buch hat mich sehr beeindruckt. Und ich habe es noch einmal - muss ich sagen - auch mit Grausen gelesen, gerade dann, wenn man eine grundsätzliche Sympathie für den Kontinent hat und wenn man auch eine grundsätzliche Sympathie für die Nöte von unendlich vielen Leuten hat, die auf diesem Kontinent in den 60er und in den 70er Jahren gegen Militärdiktaturen, gegen Despotien gekämpft haben und für die die Demokratie eigentlich ein ferner Traum gewesen ist.

Wie gesagt: Grundsätzlich beeindruckt mich all das, was Gerhard Koenen da zusammengetragen hat und ich ziehe meinen Hut. Der einzige Einwand betrifft manchmal den Ton. Beim Ton hatte ich manchmal den Eindruck, dass ihn dort auch ein bisschen - wenn man es etwas frech sagt - seine eigene kommissarische Vergangenheit einholt. Es ist vollkommen klar, Hans Christoph Buch hat es eben schon gesagt, die Dinge, die Che Guevara von sich gegeben hat, haben mich noch einmal tatsächlich wirklich umgehauen. Auch der Werdegang von Fidel Castro ist keine schöne Geschichte - muss man wirklich sagen.

Dennoch gibt es Gründe bis heute verrückterweise, warum diese kubanische Revolution, also praktisch das Werk, was Fidel Castro und Che Guevara vollbracht haben, tatsächlich für Millionen von vor allen Dingen jungen Lateinamerikanern über Jahrzehnte ein romantischer Traum gewesen ist. Die Leute sind dort hingekommen. Ich habe in letzter Zeit auch immer wieder Berichte darüber gelesen, auch ein Buch darüber, dass diese Leute sich auch mit den bereits despotischen Bedingungen auf dieser Insel Ende der 60er Jahre klaglos abgefunden und gesagt haben, das muss so sein. Das ist halt so. Wir kämpfen alle gegen den Imperialismus.

Maike Albath: Es gab allerdings auch viele, die damals weggegangen sind. Es gab einen großen Exodus nach der kubanischen Revolution und dann auch immer wieder in Schüben. Viele Familien verließen das Land, auch viele, die eine Bedeutung hatten oder Schlüsselstellen innehatten. Und es gab dann andererseits, Hans Christoph Buch, die Faszination von europäischen Intellektuellen. Sie hatten ja gerade schon diese Homosexuellenlager erwähnt. Das war das Einzige, was Giangiacomo Feltrinelli abgestoßen hat, der ja begeisterter Anhänger von Castro war. Es gab Simon de Beauvoir und Sartre, die dorthin reisten, die von den "Flitterwochen der Revolution" sprachen. Es hatte also trotz dieser totalitaristischen Strukturen eine unglaubliche Strahlkraft. Können Sie uns das noch mal ein bisschen erläutern, woran das lag? Und hat man diese militaristischen, diese totalitären Züge am Anfang sehr ausgeblendet, wenn Sie sich auch erinnern an Ihre eigene Jugend? Sie sind ja selbst ein 68er, wenn ich das so sagen darf.

Hans Christoph Buch: Ja, ja, es ist gar nicht schwer zu verstehen. Die kubanische Revolution hatte Sexappeal. Die hatte eine erotische Ausstrahlung. Das war ein echter Kampf, fast wie im Film "Viva Maria" mit Brigitte Bardot über die mexikanische Revolution, wo die Gewalt lustvoll zelebriert wird. Es war ein Kampf gegen einen unsympathischen Diktator, ein siegreicher Kampf, auch ein heldenhafter Kampf. Das muss man sagen. Es hat ja was Mythisches, diese Gruppe von Guerilleros, die bei der Landung fast alle ums Leben kommen. Und dann sind es ein Dutzend, die in die Berge gehen und anderthalb Jahre später siegreich in Havanna einmarschieren.

Diese Revolution war jung. Sie war bärtig. Das fiel zusammen mit der Jugendmode damals. Es waren auch Frauen dabei von Anfang an, und zwar nicht nur als Geliebte, trotz des Machotums von Che und Fidel, sondern auch als Mitkämpferinnen. Und es war insgesamt ein Hoffnungsschimmer, zumal diese Revolution nicht von der Sowjetunion ferngelenkt war, sondern im Gegenteil von Moskau, aber auch von Peking, anfangs gar nicht begriffen wurde. Die waren mit ihrem internen Konflikt beschäftigt - Chinesen gegen Sowjets - in dieser Zeit.

Dann bildeten sich diese totalitären Züge heraus. Koenen hat auch deutlich gemacht, dass die Diktatur, die Fidel Castro und Che Guevara stürzten, nicht so schlimm war. Das war keine so blutrünstige Despotie, wie man es hinterher in der Propaganda dargestellt hat. Es war eine schwächelnde Diktatur, die dann auch nach den ersten Siegen der Guerilla schon die Koffer packte und außer Landes ging. Battista hatte schon mal vorher regiert. Da war er viel blutiger und härter gewesen. Er war schon angekränkelt in seiner Herrschaft.

Zweiter Punkt: Kuba war nicht so unterentwickelt vor der Revolution, wie es von der Propaganda hinterher dargestellt wurde. Es gab dort Straßen, Elektrizität, Telefon, ein bekanntlich üppiges Nachtleben und, und, und. Hemingway war da zu Gast und natürlich auch die amerikanische Mafia hatte da ihre Zelte aufgeschlagen. All das hat Fidel Castros Revolution beendet, und zwar zu Recht. Da hatte er sehr viele Sympathien in der ganzen Welt, vor allem in der westlichen Welt. Die Sowjetunion hat lange gebraucht, um Che Guevara überhaupt als Freiheitskämpfer und Revolutionär ernst zu nehmen. Der wurde anfangs als Abenteurer abgelehnt. Ich erinnere mich noch sehr genau, dass in Ostberlin ein Che-Guevara-Abzeichen oder T-Shirt als Oppositionssignal eine zeitlang galt. Aber das war in den 60er Jahren. In den 70er, 80er Jahren wurde er dann nach seinem Tod vereinnahmt. Also, eine komplizierte Geschichte, eine authentische Revolution, die Hoffnungen weckte und die dann sehr schnell ins sowjetische Fahrwasser geriet. Wobei man dazu sagen muss: Che Guevara, auch das stellt Gerhard Koenen dar, sympathisierte eher mit Mao Tse-tung als mit der Sowjetunion und - auch das viel zu wenig bekannt - legte von Grab von Stalin Blumen nieder, gegen den Willen seiner sowjetischen Gastgeber. Damals war noch Chruschtschow an der Macht. Er hatte gerade erst die Entstalinisierung verkündet. Da kommt Che Guevara und fand damals, und auch später hat er es immer wieder gesagt, dass Stalin doch ein großer Held gewesen sei.

Maike Albath: Man lernt sehr viel aus diesem Buch. Es ist ungeheuer gründlich, sehr detailreich. Es ist im Grunde auch eine Geschichte Lateinamerikas, des Kontinents und von Kuba natürlich. Es ist sehr, sehr ausführlich. Viele kleine Anekdoten fließen auch ein. Heinrich von Beerenberg, ist es dennoch ein sehr europäischer Blick, der hier auf Kuba und auf Che Guevara von Gerhard Koenen geworfen wird?

Heinrich von Berenberg: Ich finde, schon. Wenn ich es vergleiche: Ich musste mal vor zehn Jahren drei Biographien von Che Guevara hintereinander lesen, die alle von ganz woandersher kamen. Also, einer José Castañeda ist Mexikaner, John Lee Anderson ist Amerikaner gewesen. Und Paco Ignacio Taibo, der eine einzige Heldengeschichte geschrieben hat, ist - glaube ich - auch Mexikaner.

Gerhard Koenen ist da ganz anders. Das Gute, es hat ja auch seine Vorzüge, ist in diesem Falle der analytisch-politische Blick. Darin ist er ganz hervorragend, eigentlich was Hans Christoph Buch auch schon gesagt hat, in dem Auseinanderdividieren der lateinamerikanischen politischen Verhältnisse zur Zeit, als Che Guevaras und Fidel Castros Karriere begann. Die Schilderung der Unterschiede zwischen den vereinzelten lateinamerikanischen Entwicklungen, vor allen Dingen den Sonderfall Kuba, das alles ist in diesem Buch ganz hervorragend.

Der europäische Blick vielleicht auch ein bisschen der deutsche Blick ist der manchmal etwas übertrieben schrille Ton, wenn er sich vor allen Dingen über diese beiden negativen Helden aufregt. Das kann ich verstehen. Aber manchmal habe ich auch gedacht, na ja, du schreibst dir da vielleicht auch ein bisschen was vom Hals. Aber das ist auch in Ordnung.

Maike Albath: Sich etwas vom Leib schreiben, vor allem, wenn die Leser dann davon auch noch großen Gewinn haben.

Wir sprachen über "Traumpfade der Weltrevolution" von Gerhard Koenen, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch. Wir haben zum Schluss unserer Sendung noch einen Moment Zeit für einen Buchtipp. Hans Christoph Buch, eine Empfehlung für unsere Hörer.

Hans Christoph Buch: Ich würde den neuen Roman von Gerd Peter Eigner "Die italienische Begeisterung" empfehlen, ein Autor, der über zehn Jahre lang geschwiegen hat und jetzt einen gewichtigen und, wie ich finde, faszinierenden Roman vorlegt. Zwei alte Männer unterhalten sich in Italien in einem Bergdorf über ihr eigenes Leben, speziell über die Frau, die sie beide geliebt haben, ohne voneinander zu wissen. Das geht unter die Haut. Es ist auch ein schonungsloses Selbstporträt noch mal eines Macho, aber keines Lateinamerikaners, sondern eines deutschen Autors.

Und ich würde, wenn ich die Zeit habe, auch noch empfehlen: "Shanghai fern von wo" von Ursula Krechel, ein sehr bewegendes Buch über die jüdische Emigration aus Hitlerdeutschland und Österreich nach Shanghai. Das war der einzige Punkt der Welt, wo damals Juden ohne Visum aufgenommen wurden.

Maike Albath: "Shanghai fern von wo" ist erschienen bei Jung und Jung. Eigner ist erschienen …

Hans Christoph Buch: .. im Kiepenheuer & Witsch Verlag.

Maike Albath: Heinrich von Berenberg, Ihre Empfehlung?

Heinrich von Berenberg: Ich würde gerne ein Buch von Franziska Augstein empfehlen. Das ist ein Buch über Jorge Semprún. Jorge Semprún ist ein großer schillernder Schriftsteller, der eigentlich sein ganzes Werk vor allen Dingen um anderthalb Jahre seines Lebens geschrieben hat, die er in Buchenwald verbracht hat. Franziska Augstein hat ein Buch geschrieben über ihn, aber auch über das 20. Jahrhundert, über die großen gegenläufigen ideologischen Bewegungen, die beiden großen schrecklichen oder mehr oder weniger schwierigen Alltagsreligionen, den Faschismus und den Kommunismus - wie man dazu wird, wie man davon los kommt, das alles am Beispiel dieses Schriftstellers. Es ist keineswegs ein Heiligenbild. Es ist ein sehr interessantes Buch. Es hat mir gut gefallen.

Maike Albath: Vielen Dank für die Empfehlungen und für das lebendige Gespräch über lateinamerikanische Wirklichkeiten. Hans Christoph Buch und Heinrich von Berenberg, danke, dass Sie hier waren.

Die nächste Ausgabe von Lesart hören Sie am Ostersonntag. Für heute verabschiedet sich am Mikrofon Maike Albath.


Hector Abad: Brief an einen Schatten - Eine Geschichte Kolumbiens
Berenberg Verlag, Berlin 2009

Gerd Koenen: Traumpfade der Weltrevolution - Das Guevara-Projekt
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008