Suzuki/Grady: "Der Baum"

Die Intelligenz der Bäume

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Ein alternativer Nobelpreisträger und ein Schriftsteller erzählen die Geschichte des Baumes. © Cover: oekom-Verlag, Foto: Andreas Diel
Von Heike Tauch · 08.09.2018
Bäume stehen einfach nur in der Landschaft herum und tun nichts? Was für ein Irrtum, erfahren wir in David Suzukis und Wayne Gradys Buch "Der Baum": Vielmehr seien Bäume intelligente Wesen, die kommunizieren und sogar sexuelle Beziehungen unterhalten.
Was mit der Beschreibung eines einzelnen Baumes beginnt, entfaltet sich zu einer Meditation über die Allverbundenheit des Lebens. In riesigen Schritten durcheilen Suzuki und Grady die Evolutionsgeschichte, kontemplieren vergangene Kulturen und ihre Schöpfungsmythen, verweilen an wichtigen Stationen der Wissenschaftsgeschichte und verlieren doch nie ihren eigentlichen Gegenstand aus den Augen.
"Ein Baum kann sich nicht bewegen; trotzdem muss er zunächst den Pollen so weit wie möglich aus seinem Territorium hinausbefördern, dann aber wieder die Samen im eigenen Einflussbereich verteilen. Um dies zu bewerkstelligen, hat er erstaunliche Mechanismen entwickelt, von der Methode, Tiere als Verteiler zu instrumentalisieren, bis zu dem Trick, an den harten Schalen eines Samens Propeller, Fallschirme und Katapulte anzubringen."

Bäume sind mehr als Statisten

Dieser eine Baum, bei dem das Buch seinen Ausgang nimmt, ist eine prachtvolle, etwa 400 Jahre alte Douglasie – oder Douglas-Tanne – in der Nähe von Suzukis Inselhäuschen. Bei einem Umfang von fünf Metern ist sie erstaunliche 50 Meter hoch. Ihr Leben, schreibt Suzuki, begann etwa zu der Zeit, als Shakespeare seinen "König Lear" verfasste. Dieser mächtige Baum habe ihm, dem Zoologen, die Augen dafür geöffnet, was für ein Wunder Bäume insgesamt seien, umfasse ihr Leben doch Zeitspannen, die weit über unsere Existenz, Erfahrung und unser Erinnerungsvermögen hinausreichten. In unserer Wahrnehmung jedoch spielten Bäume meist die Rolle bloßer Statisten – zwar anwesend, doch stets im Hintergrund.
Auf knapp 250 Seiten gelingt es den Autoren, dem unkundigen Leser die Augen für das verborgene Leben von Bäumen zu öffnen, den fachkundigen Leser aber in die Welt der Wissenschafts- und Geistesgeschichte zu entführen.
So erfahren wir von äußerst komplexen, intelligenten Lebewesen, die miteinander kommunizieren, sexuelle Beziehungen unterhalten und sich für das gemeinsame Wohl einsetzen. Wir lernen ebenfalls, dass selbst nach jahrtausendelanger Forschung noch vieles, was Bäume betrifft, für uns im Dunkeln liegt. Dass das Buch eine Herausforderung bleibt und stellenweise aufgrund der Fülle von Informationen durchaus auch ermüden kann, ist zu vernachlässigen. Zu wichtig sind die Einsichten, die zu gewinnen, zu erstaunlich die Zusammenhänge, die zu begreifen sind. Etwa die von der Notwendigkeit von Flächenbränden:
"Küstenkiefern halten ihre Zapfen manchmal 50 Jahre lang geschlossen und warten auf ein Feuer, um die Zapfen zu öffnen und die darin enthaltenen Samen zu entlassen. Auch Mammutbäume halten ihre Zapfen jahrzehntelang fest geschlossen und geben die Samen erst dann frei, wenn die Zapfen auf 50 bis 60 Grad Celsius erhitzt werden. Das Gewebe von Pflanzen und Tieren beginnt bei 50 Grad zu degenerieren. Diese Baumriesen geben ihre Samen also bei Temperaturen frei, die auch ihr Tod sein könnten. Es wird vermutet, dass die untersten Äste einiger Koniferen einzig und allein aus dem Grund absterben und am Baum verbleiben, um als Brennmaterial zu dienen, um es dem Bodenfeuer zu ermöglichen, die Krone zu erreichen, um schließlich die Zapfen zu erhitzen und die Samen zu befreien."

In der Natur hängt alles sinnvoll zusammen

Eine ausgereifte Douglasie hat eine nicht brennbare Borke entwickelt. Bis zu 30 Zentimeter stark kann sie werden, um so die innen liegende lebende Kambiumschicht zu schützen. Douglasien können Flächenbrände damit überdauern, aber nicht nur das: Sie brauchen sie als "reinigende Feuer" zur Erhaltung ihrer Art. – Es sind immer wieder solche Gedanken, die ein Gefühl dafür vermitteln, wie sehr in der Natur alles auf sinnvolle Weise miteinander zusammenhängt.
"Bäume haben ihre eigenen, komplexen Systeme zur Regulierung von Wachstum, Versorgung, Reparatur und Verteidigung entwickelt. Theophrast lag nicht ganz falsch, wenn er glaubte, durch die Adern eines Baumes fließe ein 'Lebensprinzip'."
Allerdings vergegenwärtigen Suzuki und Grady nicht nur die Vielfalt und Schönheit, sondern auch die ungeheure Schwierigkeit, die zur Entstehung der Tier- und Pflanzenarten einschließlich von uns Menschen erforderlich war und ist.
"Wir wissen nicht, wie viele potenzielle Lebensformen nur einmal kurz im Dasein aufflackerten, um gleich wieder dem Druck anderer potenzieller Lebensformen oder ungünstiger Umweltbedingungen zu erliegen oder auch aus einem Mangel an Ressourcen oder Einfallsreichtum im Prozess der Anpassung unterzugehen und wieder im Pool der ungeformten Materie zu verschwinden."

Natur ist "Werden und Werden"

Bei aller Freude über die neuen Einsichten stellt sich beim Lesen auch ein unbehagliches Gefühl ein: Die Evolutionsgeschichte in die Vergangenheit zu verlegen, ist wohl nur unserer menschlichen Hybris geschuldet, die sich gern als Gipfel einer viele Milliarden Jahre dauernden Entwicklung sieht. Denn so, wie wir agieren und die Natur ausbeuten, ist es gut möglich, dass wir Menschen auch nur eine vorübergehende Erscheinung sind, die an sich selbst zugrunde geht und spurlos verschwindet.
"700 Jahre nach seinem ersten Auftreten als junger Sämling liegt unser Baum jetzt auf dem feuchten Waldboden, ein gefallener Riese. (...) In das Holz des Baumes sind Termiten und Riesenameisen ... eingedrungen, auch zersetzende Pilze und Bakterien. (...) Im Grunde ist er jetzt eine Ablagerung von langsam kompostierender Erde, die noch für Jahrhunderte als Bodenerhebung erkennbar sein wird. (...) In irgendeinem Septembermonat rieselt dann ein leichter Regen geflügelter Samen auf ihn herunter. (...) Die meisten sind Samen der Westamerikanischen Hemlocktanne. (Sie) gedeihen auf reichhaltiger, schattiger, organischer Erde, und genau das ist aus unserem Baum geworden. (...) Als Totholz ist unser Strunk zum Keimbett für seine konkurrierende Art geworden."
Die Autoren Suzuki und Grady führen uns in ihrem Buch vor Augen, dass die strenge Teilung in Leben und Tod eine unserer menschlichen Beschränktheit geschuldete Unterscheidung ist. In der Natur gibt es nur den Kreislauf des Lebens - eine Ewigkeit nicht des "Werdens und Vergehens", sondern des "Werdens und Werdens".
"Der Baum. Eine Lebensgeschichte" ist ein ebenso sensibles wie kompaktes Plädoyer für den bewussten Umgang mit der Natur, deren Teil wir - zumindest derzeit noch - sind.

David Suzuki, Wayne Grady: Der Baum. Eine Lebensgeschichte
Oekom-Verlag, 256 Seiten, 18 Euro

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