Susanne Heinrichs Film "Das melancholische Mädchen"

Vom Liebesideal ist nicht viel übrig geblieben

10:37 Minuten
Plakatmotiv für den Film "das melancholische Mädchen". Die Protagonisten steht in ihrem dicken weißen Mantel, darunter komplett nackt, seitlich vor einer bunten Südseestrand-Tapete. In der Hand hält sie grazil eine Zigarette.
Distanz dank Brechtschem Verfremdungseffekt: "Man kann an den Anfängen der Szenen fast immer noch mein 'Und bitte!' hören", erklärt die Regisseurin. © Salzgeber & Co. Medien GmbH
Susanne Heinrich im Gespräch mit Susanne Burg · 22.06.2019
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Hollywood inszeniere den männlichen Blick auf den weiblichen Körper als Spektakel, sagt die Regisseurin Susanne Heinrich. In ihrem Film "Das melancholische Mädchen" sucht sie nach einem weiblichen Blick und bricht mit gängigen Rollenklichees.
Susanne Burg: Der Film "Das melancholische Mädchen" sei eine "bittersüße Depressionskomödie", wie ihn der "Tagesspiegel" schrieb. Der Debütfilm der Schriftstellerin und Regisseurin Susanne Heinrich hatte seine Premiere beim Filmfestival in Saarbrücken, beim Max-Ophüls-Preis im Januar. Uns hat auch sehr gefreut, dass er den Preis als bester Spielfilm bekommen hat, denn es war unser Lieblingsfilm des Festivals. Am Donnerstag kommt der Film nun ins Kino. Ich begrüße Susanne Heinrich.
Die Regisseurin Susanne Heinrich zeigt ihre beiden Preise nach der Verleihung des 40. Max-Ophüls-Filmfestival in Saarbrücken.
Für "Das melancholische Mädchen" erhielt Susanne Heinrichden Preis der ökomenischen Jury und den Max-Ophüls-Preis für den besten Spielfilm.© Imago / Becker&Bredel
An so einem Film arbeitete man eine Weile, dann war er plötzlich in der Welt, hat einige Aufmerksamkeit bekommen. Sie waren bei verschiedenen Festivals in Rotterdam, in Göteborg, bei der Berlinale. Wie haben Sie die letzten Monate erlebt?
Heinrich: Es war auf jeden Fall viel. Also mich potenziell dauernd wiederholen und auch festquatschen in Narrativen über den Film ist auf jeden Fall anstrengend. Festivals sind anstrengend, aber es sind Riesenchancen für den Film. Ich tue, was ich kann, damit das im deutschen Kino mehr ist als ein Achtungserfolg und ihn möglichst viele Leute sehen.

Streifzug durch eine pastellfarbene Welt

Burg: Lassen Sie uns über den Film sprechen, auch wenn Sie schon so viel drüber gesprochen haben. Es ist ein sehr unterhaltsamer Film sehr intelligent, sehr eigen. Die titelgebende Hauptfigur streift in 15 Episoden durch den Tag, durch eine pastellfarbene Welt, sucht nach einem Schlafplatz, nach dem Ursprung ihrer Traurigkeit. Dabei denkt sie auch eine Menge über die Gesellschaft nach und spricht darüber, mal mit Nebensätzen, mal in sehr klaren Hauptsätzen. Das melancholische Mädchen selbst sagt, sie funktioniere gar nicht gut als Hauptfigur für einen Film. Warum haben Sie sie dennoch beziehungsweise gerade deswegen ausgewählt?
Heinrich: Sie sagt, sie funktioniert nicht gut als Identifikationsfigur. Wenn man Identifikation so versteht, wie sie heute landläufig verstanden wird, nämlich als eine Art von Übertragung. Der Film ist auch ein Versuch, sich über dieses Story-, Psychologie- und Narrationsdiktat oder -dispositiv hinwegzusetzen und zu sagen, nein, Depsychologisierung macht Sinn, wenn es um Strukturen erkennen geht und Depression politisieren, statt eine psychologische Einzelgeschichte zu erzählen.
Wenn man etwas über unsere Zeit und über den Ort – das sagt sie im Monolog – man kann von ihnen nichts lernen außer über die Zeit und den Ort, die sich in ihnen spiegeln, und dafür ist das melancholische Mädchen als Modell oder auch als Typus die ideale Figur, weil sie für die Prinzipien Weiblichkeit und Jugendlichkeit steht, die gerade hoch im Kurs stehen, um den Neoliberalismus besser aussehen zu lassen, als er eigentlich ist.
Burg: Diese weibliche Hauptfigur, oder wie man auch immer sie nennen möchte, ist interessant. Sie ist auf der Suche nach einem Schlafplatz, fragt Männer teilweise sehr direkt, ob sie bei ihnen übernachten kann. Die haben dann auch manchmal Sex, aber meistens sind es dann die Männer, die nackt zu sehen sind, nicht die Frauen. Was hat Sie an dieser Versuchsanordnung Mann-Frau über diese verschiedenen Episoden hinweg interessiert?
Heinrich: Mich interessiert zum Beispiel, was von dem großen romantischen Liebesideal, -mythos übriggeblieben ist. Nicht sehr viel, würde ich sagen. Serielle Monogamie und gewaltvolle Liebesgeschichten, aus denen irgendwie ganz viele Leute rausfallen, und mich interessiert in Bezug auf die feministische Filmtheoretikerin Laura Mulvey, die über den männlichen Blick, den "male gaze", sprich und sagt, dass das gesamte klassische Hollywood-Kino eigentlich den männlichen Blick auf den weiblichen Körper als Spektakel symbolisiert. Mich interessiert, ob es einen weiblichen Blick oder einen feministischen Blick überhaupt geben kann in dieser immer noch sehr patriarchal geprägten Welt und Denke, von der ich mich nicht ausnehmen kann.
Das melancholische Mädchen steht an einem Filmset neben einem Modell, welches in die Ferne starrt. Zitat aus der Filmszene: "Feminismus zu verkaufen!". 
"Feminismus zu verkaufen!" heißt es in der Szene, in der das melancholische Mädchen an einem Filmset einem Model begegnet.© Salzgeber & Co. Medien GmbH
Da haben wir ein bisschen gespielt. Ein Spiel ist zum Beispiel, dass wir versucht haben, Männer- wie Frauenkörper zu filmen und zu schauen, was dabei rauskommt und was das auch für Gefühle in einem freisetzt, wenn man das sieht, also wenn man einen Mann auf einem Bett Pin-up-Posen performen sieht, während eine Frau ganz eindeutig die Sprache hat und auf dem Hometrainer sitzend aus einem Buch zitiert. Oder wenn ein Mann ausgebreitet wie eine liegende Schöne von oben herab betrachtet wird oder von oben gefilmt wird, wie sonst eigentlich Frauenkörper gefilmt werden.

Der Zuschauer kann auf Distanz gehen

Burg: Wobei Sie das nicht naturalistisch machen, sondern alles vollkommen überhöht, insofern auch schon immer wieder eine Reflexion genau dieser Posen.
Heinrich: Ja, absolut. Der ganze Film versucht eigentlich nicht, der Wirklichkeit etwas abzulauschen oder etwas abzubilden, was da ist, sondern versucht eher, Modelle zu schaffen oder modellhafte Situationen zu schaffen, die etwas sichtbar machen.
Burg: In dem Zusammenhang ist die Form sehr, sehr zentral. Die Szenerie ist deutlich stilisiert, sehr artifiziell, pastellfarben, wie ich schon gesagt habe. Es gibt keine Natur, sondern das melancholische Mädchen steht vor einer Fototapete. Warum war Ihnen diese Künstlichkeit und Verfremdung wichtig?
Heinrich: Ich denke, das hat etwas damit zu tun, wir haben zum Beispiel viel mit Brecht gearbeitet, der ein anderes Verständnis von Identifikation als ein sich selbst wiedererkennen in Strukturen hatte, die einem vorgeführt werden und die auch währenddessen zu einem sagen, dass sie sich einem gerade vorführen. Wenn man genau hinschaut, dann kann man an den Anfängen der Szenen fast immer noch mein "und bitte" hören. Also am Anfang zum Beispiel richtet das melancholische Mädchen sich so auf, wirft sich in Pose, und man kann sozusagen fast die Regieanweisung hören.
Dass da etwas aufgeführt wird für den Zuschauer, das ermöglicht im besten Fall, dass er auf Distanz gehen kann, dass er nicht reingezogen, nicht paralysiert, nicht hypnotisiert nur durch die Handlung gezogen wird, was ich oft als eine Art von passiver Haltung empfinde, sondern dass er sein kritisches Bewusstsein am Eingang nicht ablegen muss, sondern denkend und fühlend in diesem Film spazieren gehen kann. Dafür braucht es eine Wiederherstellung von Distanz, die in vielen Filmen, die mit so einem Realismus oder Naturalismus arbeiten, gar nicht unbedingt immer möglich ist.

Humor jenseits von Altherrenwitzen

Burg: Welche Rolle haben für Sie eigentlich als Bezugsgröße die Filme der Frauenbewegung der 70er-Jahre gespielt?
Heinrich: Ich kann gar nicht so genau sagen, wo die in meiner Arbeit wieder auftauchen, aber sie sind für mich sehr wichtig gewesen und sehr präsent. Helke Sander wird ganz kurz zitiert im Film. Ich liebe ganz arg auch Filme von Ulla Stöckel und Jutta Brückner, und ich glaube, irgendwas an diesem Anarchischen findet sich, glaube ich, auch im "melancholischen Mädchen", aber wir haben das nicht als einfache Vorbilder benutzt, weil tatsächlich für diese Art von Ästhetik, die wir gefunden haben, gab es recht wenig Vorbilder. Die Filme der neuen Frauenbewegung arbeiten meistens auch, zum Teil aus einem finanziellen Grund, mit viel Realismus oder sehr naturalistisch, aber sie sind auch sehr wild, finde ich.
Burg: Ein Genre ist vielleicht auch noch ganz wichtig: die Komödie. Das sollten wir auch nicht unterschlagen, weil der Film mit unglaublich visuellem Humor arbeitet, Situationskomik oder arrangierter Komik. Gab es da irgendwelche visuelle Vorbilder oder erzählerische Vorbilder?
Heinrich: Nein, ich glaube, der Humor ist relativ hart erarbeitet. Ich frage mich schon länger, ob es einen anderen Humor geben kann als so ein Altherrenwitz, der eigentlich immer irgendwie abwertend oder auch sehr einfach ist. Kann man einen Witz herstellen, der voll ist und reich und der gleichzeitig irgendwie mit Identifikation und Disidentifikation oder Zustimmung und Nichtzustimmung arbeitet. Das war so eine wichtige Frage.
Das melancholische Mädchen sitzt mit einer Freundin zusammen in Bademänteln gekleidet vor einer grünen, bepflanzten Wand. Auf dem Arm trägt sie das Baby und sagt im Film "ich hoffe, ich bekomme nie ein Baby aus Langeweile."
In ihrem Film sucht Susanne Heinrich nach einem weiblichem Humor, jenseits von Altherrenwitzen.© Salzgeber & Co. Medien GmbH
Ich habe zum Beispiel mit Vanessa Stern, das ist eine Komikerin in Berlin, die an den Sophiensälen schon sehr lange "La dernière crise", eine Show über weibliche Krisen macht und die komisch bearbeitet. Das war zum Beispiel eine ganz zentrale Person für mich in meiner Auseinandersetzung mit sowas wie – in starken Anführungszeichen – weiblichem Humor, und ich glaube, der hat sich auch wirklich erst so Layer für Layer hergestellt. Als ich das Drehbuch gelesen habe, war noch ein anderes als das Lachen, was jetzt im Kino ist, weil das hat dann auch mit ganz viel mehr zu tun, also auch mit der Symmetrie oder mit der Art des Spiels, eben dieses Brechtsche Spiel oder mit den Hasenschuhen von den Müttern im Yogaraum. Also der ist irgendwie anders als nur der Humor im Drehbuch geworden.

Offenheit gegenüber dem Film

Burg: Das ist dann wahrscheinlich für Sie interessant, den Film mit Publikum zu sehen. Da sieht man Filme in der Regel anders. Sie haben den Film auch einem sehr unterschiedlichen internationalen Publikum gezeigt. Was waren eigentlich die interessanteren Reaktionen auf den Film?
Heinrich: Natürlich freue ich mich, wenn Leute danach sagen, ah, ich habe Eva Illouz gelesen, das hat mich ganz doll dran erinnert. Oder ich kenne Laura Mulvey. Oder das ist ein toller Beitrag. Aber am allermeisten freue ich mich, wenn Leute davon hinterrücks erwischt werden und irgendwie aus einer Art von Verwirrung oder perplex sein oder so heraus sprechen. Ich habe mich total gefreut über einen Mann, der sich für die zehnsekündige Großaufnahme von dem Penis bedankt hat, weil er gesagt hat, das hat er einfach so noch nie gesehen. Das hat ihm bewusst gemacht, was das eigentlich bedeutet, irgendwie 100 Jahre sinnlose Boobie-Shots und wie man als Frau vielleicht auch ab und zu Filme guckt und erlebt.
Ich war sehr überrascht, dass in Saarbrücken viele Menschen um die 60 wahnsinnig offen dem Film gegenüber waren und sehr begeistert waren. Ich hatte vorher ein bisschen Angst, dass er vielleicht aus einer Bubble erzählt, die sich außerhalb eines bestimmten kulturellen Kreises und eines bestimmten Altersfeldes vielleicht nicht mehr kommunizieren lässt, das war immer noch das Eindrücklichste für mich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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