Susan Sontag: "Wie wir jetzt leben"

Aids und die Parallelen zu Corona

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Ein Mitarbeiter richtet bei einer an Covid-19 erkrankten Patientin in einem Zimmer des besonders geschützten Teils der Intensivstation des Universitätsklinikums Greifswald die Beatmungsmaske.
Angesichts eines am Virus Erkrankten erhebt sich ein Stimmenrauschen in seiner Umgebung: Das schreibe Susan Sontag in ihrem Essay zu Aids, sagt Sigrid Löffler - und zieht Parallelen zum derzeitigen Stimmengewirr rund um Corona. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Jens Büttner
Von Sigrid Löffler · 03.12.2020
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In dem Essay "Wie wir jetzt leben" schreibt die US-amerikanische Publizistin Susan Sontag Mitte der 80er über den Umgang mit dem damals neuen Aidsvirus. In dem jetzt auf Deutsch erschienenen Text sieht Kritikerin Sigrid Löffler Ähnlichkeiten zu Corona.
Soeben ist ein Erzählungsband von Susan Sontag, der amerikanischen Essayistin und Star-Intellektuellen, auf Deutsch erschienen: "Wie wir jetzt leben". Vor allem die gleichnamige Titelgeschichte wirkt aus heutiger Sicht frappierend aktuell und hält möglicherweise Verhaltenslehren für den Umgang mit Covid-19 bereit.
Sontag thematisiert in dieser Story, die 1986 erstmals in der Zeitschrift "New Yorker" erschien, die damals neue Aids-Epidemie, die besonders in der New Yorker Künstlerszene – und damit auch in Sontags Freundeskreis – erschreckend zahlreiche Opfer forderte. Aids beherrschte als ständige Bedrohung die Gedanken und Gespräche unter Sontags Freunden und Bekannten.
Dies ist auch der Blickwinkel, aus dem Sontag den Einbruch dieser neuartigen Krankheit in die unbekümmert freizügige Gesellschaft der 1980er-Jahre erzählt: Es ist die Perspektive eines aufgeschreckten Freundes- und Bekanntenkreises, in dessen Mitte es einen der ihren erwischt hat.
Die Krankheit wird allerdings nirgends namentlich erwähnt: Sie hat noch keinen Namen. Noch weiß niemand, woher das Virus kam und wie man es bekämpfen könnte. Man weiß allerdings inzwischen, auf welche Weise sich die Seuche überträgt und welche furchtbaren Formen die Krankheit annehmen kann.

Damaliges und derzeitiges Stimmengewirr

Die Krankheit wird in raffiniert indirekter Form reflektiert: ausschließlich in den Reaktionen und Gesprächen der Freunde eines Erkrankten. Es erhebt sich ein polyfones Gewirr von besorgten, alarmierten, ängstlichen, aber auch abwiegelnden, tröstenden, beratschlagenden und nüchternen Stimmen, die den Krankheitsverlauf ihres infizierten Freundes wie ein antiker Chor begleiten und kommentieren. Der Einzige, der nicht die Stimme erhebt, ist der Betroffene selbst.
Der Mann, der sich mit dem neuen Virus angesteckt hat, ist Ende 30 und gehört derselben Generation an wie seine Freunde. Durch die Infektion wandelt er sich vom handelnden Subjekt zum behandelten Objekt. Er wird im Krankenhaus besucht und beschenkt, Freunde und Bekannte sorgen sich um ihn, kommentieren sein Aussehen und informieren einander über den Krankheitsverlauf, beschreiben die eigenen Gefühle, die Ratlosigkeit und Ängste angesichts seiner Infektion.
Doch hinter diesem Stimmenrauschen bleibt der Erkrankte selbst stumm. Die Freunde lieben ihn, sie wetteifern, wer von ihnen ihm am nächsten steht – oder stand? Unmerklich verändert sich das Gespräch über ihn: Sie reden über ihn bereits wie über einen künftigen Toten. Die Parallelen zum derzeitigen Stimmengewirr rund um das Coronavirus liegen auf der Hand.

Dämonisierung und Politisierung

Sontags Erzählung "Wie wir jetzt leben" hatte Folgen. Von heute her gesehen, wird sie erkennbar als literarische Vorläuferversion zu ihrem drei Jahre später erschienenen großen Essay "Aids und seine Metaphern".
Susan Sontag, die selber jahrzehntelang gegen verschiedene Krebserkrankungen gekämpft hat, reflektiert in ihren Essays, vor allem in "Krankheit als Metapher", immer wieder, wie bestimmte Krankheiten von Ideologien in Beschlag genommen und als Metaphern benutzt werden: die Tuberkulose oder die Epilepsie im 19. Jahrhundert und der Krebs im 20.
Der Prozess des Krankwerdens wird von furchterregenden Metaphern überlagert. Sontag hat früh beobachtet, wie auch HIV-Infektionen dämonisiert wurden, indem man Aids als Bestrafung für "deviantes" sexuelles Verhalten oder Drogenkonsum deutete. Eine neue Seuche kann nicht einfach nur eine Seuche sein. Ein wichtiger Gedanke, wenn man sich die aktuelle Dämonisierung und Politisierung des Coronavirus vor Augen hält.

Susan Sontag: "Wie wir jetzt leben"
Übersetzt aus dem Englischen von Kathrin Razum
Hanser Verlag, München 2020
128 Seiten, 20 Euro

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