Surrealismus im Vitra Design Museum

Wie eine Psychoanalyse der Dingwelt

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Das Objekt "Tour" von Gae Aulenti ist ein Glastisch, der anstelle von vier Tischbeinen vier Räder hat.
Gae Aulenti, Tour (1993) - zu sehen in der Ausstellung "Objekte der Begierde" im Vitra Design Museum. © © Vitra Design Museum, Foto: Jürgen HANS
Von Johannes Halder · 28.09.2019
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In den phantastischen Bildwelten des Surrealismus spielten Alltagsgegenstände eine zentrale Rolle. Wie stark der Surrealismus das Design der letzten hundert Jahre beeinflusst hat, zeigt eine Ausstellung im Vitra Design Museum in Weil am Rhein.
1921 spickte der amerikanische Künstler Man Ray ein Bügeleisen mit Nägeln und schenkte es dem Komponisten Eric Satie. Der surrealistische Scherzartikel machte ihn zum Pionier einer künstlerischen Praxis, die später vor allem die Vertreter der Pop-Art weiterentwickelten: Kunst als "Designprodukt", das sich von Objekten des alltäglichen Gebrauchs inspiriert, sagt der Kurator Mateo Kries:
"Was man hier sieht, ist die Bereitschaft des Künstlers, die sich dann auch auf Designer übertrug, die Bedeutung eines Objekts zu unterlaufen und mit der Bedeutung zu spielen. Und das war etwas völlig anderes als was die Avantgarde oder den Funktionalismus in dieser Zeit interessierte. Denn da ging es um praktische Aspekte, um den Gebrauchswert."

Bedeutungslose Gegenstände verwandeln sich in Kunst

Das bizarre Bügeleisen, mit dem man Kleider in Fetzen reißen kann, steht gleich am Beginn der Ausstellung im Vitra Design Museum. Die Räume sind dunkel und geheimnisvoll gestaltet wie eine Höhle, so dass der Besucher gewissermaßen eintaucht in die Tiefen der Seele, in die Ursprünge und Abgründe des Surrealismus. Auch Marcel Duchamps berühmtes Fahrrad-Rad und andere Vorläufer und Ikonen des Surrealismus sind hier zu sehen - die Wände voller Bilder und Fotos, die Vitrinen voller Dokumente.
Der nächste Raum untersucht den spannenden Dialog zwischen einem Gegenstand und seinem Abbild. René Magritte ist wieder mal der Kronzeuge, der uns vor Augen führt, dass sein gemaltes Stückchen Käse eben kein echter Käse ist, auch wenn er das Gemälde vorsichtshalber unter eine echte Käseglocke stellt. Es ist die Magie der Dinge, wo sich scheinbar bedeutungslose Gegenstände in Kunst verwandeln und die Kunst mit ihren Schöpfungen wiederum die Objektwelt inspiriert.
Kries: "Die Surrealisten waren fasziniert von solchen Dingen, die sie aus der Trivialkultur teilweise entnahmen, aber dann auf ihren tiefenpsychologischen Gehalt untersuchten, eigentlich wie eine Psychoanalyse unserer Dingwelt. Und das hat natürlich viel mit Design zu tun, weil das alles Alltagsgegenstände waren."

Der Surrealismus traf den Nerv der Zeit

Salvador Dalí, der mit der Doppelbödigkeit der Dinge zu spielen verstand wie kein anderer, avancierte rasch zu einem Superstar des Surrealismus, auch in den USA, wo die Bewegung in den 1930er und 1940er-Jahren einen regelrechten Hype erlebte. Und es war gewiss kein Zufall, dass in dieser Zeit auch die Grundlagen des modernen Marketings geschaffen wurden, das sich die mitunter fetischhafte Objektfixierung des Menschen zunutze machte, um ihn für den Konsum zu konditionieren.
Kries: "Da hat der Surrealismus so einen Nerv der Zeit getroffen. Und die Werbung hat dann auch ganz begierig Motive oder Strategien aus dem Surrealismus aufgegriffen und sich zu eigen gemacht. Diese Motive, denen man sich eigentlich nicht entziehen kann, weil sie so im kollektiven Unterbewusstsein verankert sind, dass sie immer eine Wirkung haben. Das war etwas, was wirklich aus dem Surrealismus direkt in die Werbung einfloss."

Absurde Ideen können auch zu Kitsch führen

Wie man Wünsche weckt und die Erfüllung von Träumen verspricht, wie man mit dem surrealistisch inspirierten Blick in die Seele Objekte der Begierde erschafft, das haben die Designer schnell gelernt.
Allerdings hat das Prinzip, auf die Funktionalität zu pfeifen und auch absurden Ideen freien Lauf zu lassen, in der Folge auch eine Menge Kitsch hervorgebracht, wie man hier sieht. Eine lebensgroße Pferdeskulptur als Lampenständer, naja - zum Wiehern. Und Meret Oppenheim in Ehren, doch ihr mit Blattgold belegter Beistelltisch von 1939 mit seinen fragilen Krähenfüßen ist ein Objektwitz, der sich schneller verbraucht als man seine Teetasse darauf abstellen kann. Ein Fall fürs Kuriositätenkabinett.
Auch eine Erotikabteilung hat die Schau, bestückt etwa mit einer Adaption von Dalís legendärem Lippensofa von 1937. Etwas betreten steht man daneben vor der Skulptur des britischen Popkünstlers Allen Jones von 1969: eine Frau in Reizwäsche, die sich rücklings als Sitzmöbel darbietet, ein schwarzes Lederpolster auf den nackten Schenkeln. Ein Werk, das - trotz seiner Ironie - heute brisanter erscheint als damals. Männerphantasien eben, typisch für die Surrealisten.

Der Algorithmus als kreativer Helfer

Doch denen ging es ja gerade darum: zu provozieren, Tabus zu brechen und sich dem gesellschaftlichen Konsens zu verweigern. Das "wilde Denken", dem sie ihre Inspirationen verdankten, gilt auch für die Designer als oberste Disziplin. Kontrolle ist der Tod der Kreativität.
Immerhin, auch das demonstriert die Schau etwa am Beispiel einer Vase mit unkonventionell zerfließender Form, kombinieren Designer ihre kreative Denkarbeit heutzutage mit digitaler Technik. Sie geben eine grobe Grundform vor und überlassen den Rest des Prozesses einem Helfer, der auch im Surrealismus eine Rolle spielte: dem Zufall. Und den besorgt ein Algorithmus.

Objekte der Begierde
Surrealismus und Design 1924 – heute
28.09.2019 – 19.01.2020
Vitra Design Museum in Weil am Rhein

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