Superhelden auf der Theaterbühne

Nichts Göttliches - aber unverzichtbar

14:07 Minuten
Eine Gruppe Schauspielerinnen in weißen Kostümen legt bunte Plastikringe über eine weitere Schauspielerin.
Die Superheldin Wonder Woman zwingt ihre Gegenspieler mit einem Lasso dazu, die Wahrheit zu sagen. Ein starkes Bild, das Antonio Latella inspiriert hat. © Staatstheater Cottbus/Rainer Weisflog
Antonio Latella im Gespräch mit Susanne Burkhardt · 04.09.2021
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Warum sehnen wir uns als vernunftbegabte Wesen nach Superkräften? Für den italienischen Regisseur Antonio Latella sind die Superhelden und -heldinnen keine Projektion, sondern wir selbst. In Cottbus bringt er "Zorro" und "Wonder Woman" auf die Bühne.
Sie sind schön, sie sind stark, folgen einem moralischen Kompass und besitzen übermenschliche Fähigkeiten. Superhelden und Superheldinnen sind besonders in Krisenzeiten gefragt. Nach eineinhalb Jahren Pandemie sind sie jetzt auch verstärkt im Theater anzutreffen.
Autorinnen interessieren sich vermehrt für sie – auch der italienische Regisseur Antonio Latella, der im vergangenen Jahr die Biennale Teatro in Venedig leitete, ist offenbar fasziniert von Superkräften.
Für das Staatstheater Cottbus bringt Latella gleich zwei solcher Superheldinnen auf die Bühne: "Zorro" und "Wonder Woman". Während die Theaterliteratur voll von antiken und klassischen Helden ist, gibt es Superheldinnen noch nicht so lange. Anders als die schicksalsgeschlagenen Helden der Antike haben die modernen Heldinnen vor allem mit globalen, ökologischen oder technologischen Problemen zu kämpfen.
Unsere Theaterredakteurin Susanne Burkhardt hat mit Latella über seine Arbeit gesprochen.
Susanne Burkhardt: Was interessiert Sie an diesen modernen Heldengeschichten?
Antonio Latella: Was mich an den Superhelden interessiert, ist, warum die Menschen im 21. Jahrhundert noch das Bedürfnis verspüren, Superhelden zu erschaffen. Aus welchen Gründen haben wir Comichelden geschaffen, die durch den Himmel fliegen, die alle Schlachten gewinnen? Warum haben wir als Männer und Frauen, die an das Rationale, an die Vernunft gewöhnt sind, die Notwendigkeit verspürt, solch fantastische Superhelden zu kreieren, die nichts Göttliches haben, die anders als die Helden der Antike keine Halbgötter sind.
Interessant daran ist auch, dass die Superhelden der Comics nicht nur auf dem Papier existieren, sondern auch in anderen Medien. Es gibt Serien, bei Netflix oder Kinofilme, wo man diese gespielten großen Helden sehen kann.

An Menschen glauben

Susanne Burkhardt: Derzeit beschäftigen uns so viele komplexe Themen, natürlich vor allem die Klimakatastrophe, es gibt Debatten um Dekolonialisierung, Genderfragen – ist es vielleicht so, dass wenn die Krisen am größten sind, der Bedarf nach Superhelden auch wächst?
Antonio Latella: Ich glaube, dass die Realität als solche momentan nicht einfach so hinzunehmen ist. Als Lebewesen, als Mann oder Frau, die wir morgens aufstehen und uns der Realität stellen müssen, sehen wir uns nicht nur mit schönen Dingen konfrontiert, sondern auch mit Monstrositäten, die man als Mensch allein nicht akzeptieren kann. Sich täglich der Realität zu stellen, bedeutet auch, die Kraft zu haben, an die Menschheit und an das Leben zu glauben.
Ich glaube, letztendlich ist der Superheld keine Projektion – wir selbst sind die Superhelden, jeden Tag neu. Die Fähigkeit, dieses Leben Tag für Tag, Minute für Minute zu leben. Wenn wir innehalten, um zu sehen, was heutzutage passiert, ist es nicht leicht, das hinzunehmen und weiterzuleben. Wir müssen etwas Größeres werden, als wir sind, mehr als wir sind.
Porträt des Theaterregisseurs Antonio Latella.
Das Theater wieder mit der Lust am Kontakt zum Publikum sehen: der Regisseur Antonio Latella.© Marlies Kross
Susanne Burkhardt: Sie haben sich in Ihrer Inszenierung auf zwei Heldinnen konzentriert: "Zorro" und "Wonder Woman". Der Abend besteht aus zwei Teilen, im ersten Teil geht es um "Zorro", den unbesiegbaren Rächer mit Umhang, Degen und schwarzer Maske. Ein Kämpfer gegen Ungerechtigkeit, ein Typ mit doppelter Identität, im Alltag der unscheinbare Landedelmann und Müßiggänger Diego de la Vega, der kann sich in unbesiegbaren Retter Zorro verwandeln. Bei Ihnen stehen vier Männer auf der Bühne – warum "Zorro" und beispielsweise "Superman"?
Antonio Latella: In der Geschichte der Superhelden ist der erste große Superheld Zorro. Zorro entsteht als der Held, der gegen die Armut kämpft. Er ist der Vater aller Superhelden, in dem Sinne, dass er ideell der Vater von Batman ist. Als erstes gab es Zorro, aus ihm haben sich die anderen Superhelden entwickelt.
An Zorro interessiert mich folgendes: Einmal stimmt es, dass er gegen die Ungerechtigkeit kämpft, und das historisch betrachtet in einer Phase der wirtschaftlichen Krise, in dieser Ära entsteht die Figur. Es geht um das Thema der Armut.
DEU/Brandenburg/Cottbus: (Copyright © Rainer Weisflog +49171/6254657) Zorro am Staatstheater Cottbus
Z für Zorro: Für Latella war Zorro der erste Superheld. Er kämpfte gegen die Armut.© Staatstheater Cottbus/Rainer Weisflog
Als ich in Italien an einem anderen amerikanischen Text arbeitete, habe ich in Bologna zwei Obdachlose gesehen, die auf der Straße bettelten und als Zorro verkleidet waren. Ich habe die beiden fotografiert und gedacht, dass ich gern die aktuelle Situation der Armut durch diese Version des Zorros, durch diesen Superhelden erzählen würde.
Es sind vier Schauspieler, die eine Quadrille spielen, vier Archetypen, vier Symbole, da gibt es den Armen, den Polizisten, den Stummen und das Pferd. Bei jeder Quadrille tauschen die vier die Rollen. Also sind alle vier arm, alle vier Polizist usw. Dieser ständige Identitätsverlust ist für mich deshalb interessant, weil aus diesem Identitätsverlust heraus der Superheld entsteht.

Wahrheit und Weiblichkeit

Susanne Burkhardt: Dann gibt es einen zweiten Teil: "Wonder Woman". Sie ist die erste Superheldin, die es gibt, erschaffen von William Moulton Marston, also einem Mann. Sie hatte ihren ersten Auftritt in einem Comic 1941 – also vor 80 Jahren. Was interessiert Sie an dieser Figur? Man muss sagen, dass Superheldinnen meist einem Klischee entsprechen, einer Männerfantasie: Sie sind schön, schlank, stark. Warum also "Wonder Woman"?
Antonio Latella: Was ich so interessant finde, ist die Idee, eine weibliche Superheldin zu erschaffen, in einem Kontext, in dem bisher alle Helden ausschließlich Männer waren. Eine Heldin des 20. Jahrhunderts entstehen zu lassen. Das Entscheidende für mich war aber, dass der Schöpfer dieser Heldin auch den Lügendetektor erfunden hat, den Apparat, mit dem man herausfinden kann, ob ein Mensch lügt oder nicht. Im Zusammenhang mit Wonder Woman ist das sehr interessant, wie man weiß, hat sie dieses Lasso, und dieses erzeugt einen magischen Kreis. Dieser zwingt die Menschen dazu, die Wahrheit zu sagen und nicht zu lügen.
Es ist interessant, dass die Assoziation der Wahrheit mit einer weiblichen Superheldin verknüpft ist, während es bei den männlichen Superhelden vor allem um Kraft, um das Siegen durch physische Kraft geht. Hier haben wir dagegen eine Heldin, die durch ihre Intelligenz gewinnt und die Menschen dazu bringt, die Wahrheit zu sagen.
Unsere Auseinandersetzung mit Wonder Woman steht in direktem Bezug zu einem Fall der italienischen Justiz, in dem offiziell Lügen verbreitet wurden. Wir wurden inspiriert vom Fall eines noch nicht volljährigen jungen Mädchens, das vergewaltigt wurde und vor Gericht verloren hat, weil der Richter sagte, sie sei zu hässlich, um vergewaltigt zu werden. Sie nannten sie abschätzig Wicki, die Wikingerin.
Nach einer Recherche des Dramaturgen Federico Bellini sind wir auf diesen Fall aufmerksam geworden und haben ihn benutzt, um Wonder Woman und damit den Frauen die Kraft zu geben, im Kampf gegen Vergewaltigungen und gegen die Unterwerfung der Frauen erfolgreich zu sein. Das alles in einer Situation, in der die Zahl der Femizide, also der Morde an Frauen, extrem hoch ist, überall auf der Welt, nicht nur in Italien.

Veränderung durch Corona

Susanne Burkhardt: Sie haben den Text gemeinsam mit dem Dramaturgen Federico Bellini entwickelt. Man könnte diesen Text auch so verstehen, dass er zum Widerstand aufruft gegen klassische Rollen, die Frauen zugeschrieben werden, gegen klassische Unterdrückungsmechanismen. Ist Ihr Abend "Wonder Woman" auch ein Plädoyer für die Selbstermächtigung der Frau?
Antonio Latella: Ja. Ich denke, es ist klar, dass es in Italien etwas anders ist. Es gibt Dinge, die für Euch vielleicht normal sind, die für uns anstrengend sind. Die Frau auf der italienischen Bühne ist oftmals ein Klischee. Wenn sie nicht verrückt ist, wenn sie niemanden umbringen will, sich nicht die Venen aufschneidet, wenn sie nicht irgendwie gestört ist, dann wird ihre Geschichte nicht erzählt.
In der Theaterliteratur kann man das historisch so beobachten. Der Grund dafür ist, dass die Männer Angst vor der Normalität der Frau haben, die fürchten sie. Wir haben Angst, normale Lebensgeschichten zu erzählen, wir müssen immer veränderte oder gestörte Leben erzählen, vor allem, was die weiblichen Figuren betrifft. Ich halte das für sehr bedauerlich, dass das heute, im 21. Jahrhundert immer noch so ist – das ist jedenfalls meine Sicht auf die Dinge.
Susanne Burkhardt: Sie haben die Proben zu diesem Superheldinnen-Abend in Coronazeiten begonnen. Hatte die Pandemie und die ganze damit einhergehende Debatte um Solidarität und Gemeinschaft Einfluss auf die Entwicklung des Stoffes? Sie haben die beiden Bettler in Bologna erwähnt und wie Sie das inspiriert hat.
Antonio Latella: Mehr als meine Arbeit hat diese Zeit mich selbst beeinflusst. Für mich war diese Erfahrung, mit der uns das Leben konfrontiert hat, etwas Unglaubliches. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich so verändern würde. Das sage ich nicht nur so – ich habe mich wirklich verändert. Ich habe aufgehört zu rennen, mich zu hetzen. Ich halte inne, ich höre mir zu, ich frage mich, warum ich den Vorhang öffne, warum ich das machen sollte, warum man weiter Geschichten erzählen sollte, ich frage mich, auf welche Art und Weise man das tun sollte, ich frage mich, ob es unmoralisch ist, soviel Geld für Bühnenbild und Kostüme auszugeben, ich frage mich, ob man Geschichten erzählen kann, die die Armut der Menschen respektieren und nicht arrogant sind.
Ich habe mir so viele Fragen gestellt, ohne irgendjemanden oder irgendetwas zu verurteilen, aber ich habe mich selbst gefragt. Ich habe mir gesagt, dass jetzt der Moment ist, an dem man aufhören sollte, das Theater im Bezug auf die Karriere zu betrachten, sondern es eher als Lust auf Kontakt und Gespräch mit dem Publikum zu sehen. In diesem Fall möchte ich mir sicher sein, was ich dem Publikum sagen möchte. Ich möchte nach den Aufführungen, nach diesen hier und einer weiteren in München, eine Pause machen. Ich denke, ich werde wohl ein paar Jahre pausieren, um nachzudenken, über das, was passiert ist und was das für mich bedeutet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Das Gespräch wurde von Marei Ahmia aus dem Italienischen übersetzt.
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