Subkultur

Rechtsaußen oder auf dem Sprung ins Ausland

Von Stephan Ozsváth |
Ungarn blutet aus: Junge Akademiker verlassen das Land, während andere sich radikalisieren. Rechtsextreme Gruppen wachsen, rassistische Rockmusik wird immer beliebter. Doch es regt sich auch Widerstand dagegen.
Ein Café in der Nähe des Westbahnhofs in Budapest. Die 23-jährige Szofi rührt in ihrem Latte Macchiato. Sie stammt eigentlich aus Novi Sad in Serbien, aber wegen der Balkankriege ist sie nach Budapest übersiedelt, als sie 3 Jahre alt war. Jetzt sucht sie einen Job.
"Das ist nicht leicht. Es kostet wahnsinnig viel Zeit, einen Job zu finden. Nicht mal über Bekannte ist das noch einfach. Ein Vorstellungsgespräch ist keine Garantie für irgendetwas. In den Internet-Jobbörsen findet man zwar jede Menge Job-Angebote, aber die sind völlig unrealistisch: Entweder sehr schlecht bezahlt, oder es steht – gerne auch Berufsanfänger, und wenn man hinkommt, heisst es: Drei bis vier Jahre Berufserfahrung. Das wird erwartet."
Eigenes Auto, Computer – das wird auch oft erwartet, aber nicht gesagt, erzählt die selbstbewusste Ungarin mit den langen blonden Haaren. Sie wohnt noch in der Nähe des Cafés mit ihrer Mutter zusammen, spricht fünf Sprachen. Geld für eine eigene Wohnung hat sie nicht. Mit Gelegenheitsjobs hält sie sich über Wasser, erzählt sie. Übersetzungen, Reiseleiter-Jobs – alles schwarz natürlich. Würde sie für einen Job auch wegziehen?
"Ich habe viel darüber nachgedacht. Ich habe einige Jobs gesehen, die mir gefallen würden, aber die sind nicht in Budapest. Wenn man auch darüber reden könnte, wie man eine Wohnung findet, O.K. Denn es gibt nichts, was mich an einen Ort bindet."
So wie Szofia suchen derzeit 73.000 Berufsanfänger in Ungarn einen Job, heisst es beim Arbeitsamt. Der stellvertretende Direktor István Bálint sagt: das zwingt die jungen Ungarn zur Mobilität.
"Wir waren gewohnt, im 10-Kilometer Umkreis unserer Häuser und Familien einen Job zu suchen. Wir und auch die Regierung versuchen, die Mobilität zu erhöhen, etwa durch Wohnzuschüsse. Die Mobilsten sind die Jungen. Sie kleben nicht mehr am elterlichen Nest, sie kann man gut mobilisieren, und das merken wir auch."
Die Jugendarbeitslosigkeit hat sich durch die Finanz-Krise verschärft, bestätigen Arbeitsamt wie Opposition. Ihre Zahlen decken sich. Nándor Gúr ist stellvertretender Vorsitzender der Sozialisten.
"In der Altersstufe der 14 bis 25-jährigen steigt die Zahl derer, die ihr Berufsleben auf der Straße beginnen. Es sind etwa 27 Prozent – gut ein Fünftel mehr als vor Beginn der Krise und vor dem Regierungswechsel."
Kein Wunder, dass viele junge Leute die Flucht ergreifen – gut eine halbe Million Ungarn hat das Land seit 2010 verlassen, um im Ausland zu arbeiten. Dafür braucht man allerdings Sprachkenntnisse.
"Es ist schwer, in Ungarn zu leben"
Eine neue Einschreib-Runde für die Sprachkurse im Budapester Goethe-Institut. Der Andrang ist groß. Deutsch lernen ist beliebt bei Ungarn. Viktória Nagy-Hriczó ist Zahn-Ärztin, ihr Mann ist auch Mediziner. Sie denken über das Auswandern nach.
"Es ist schwer, in Ungarn zu leben. Vor allem als Arzt. Um mit drei Kindern einen gewissen Lebensstandard zu haben, muss man entweder Tag und Nacht arbeiten, oder aber man kann sich gewisse Dinge nicht leisten."
Die Regierung hat zwar die Gehälter der Ärzte erhöht. Und auch über schwarz eingestrichenes Schmiergeld gibt es ein Plus im Portemonnaie. Doch vielen reicht das nicht. Der Drang nach Westen ebbt kaum ab. Gisela Gibtner leitet die Sprachkurse am Goethe-Institut. Nicht nur der Arbeitsmarkt, die Verdienstmöglichkeiten, erzählt sie, sind Gründe für junge Ungarn, das Land zu verlassen.
"Ich habe vor der Tür unseres Einschreib-Büros junge Männer gefragt, die da gewartet haben – der eine war Ingenieur, der andere Jurist. Die sind ganz einfach auf der Suche nach einem guten Job. Es gibt einige, die arbeitslos sind, und Arbeit suchen, es gibt aber auch viele, die Arbeit haben, aber die aus unterschiedlichen Gründen dann weg wollen. Im privaten Kreis weiß ich, dass die Unzufriedenheit, bzw. der Einfluss des Staates, der in bestimmten Positionen immer stärker wird, dazu führt, dass sie weg wollen."
Ein Wahlkampf-Spot der gemeinsamen Opposition von Sozialisten, Liberalen und Grünen. Das Land blutet aus, wettert die linke Opposition. Péter Juhász hat vor einigen Jahren die Facebook-Initiative „Eine Million für die Pressefreiheit“ mit ins Leben gerufen. Heute tritt er für die gemeinsame Plattform der Linken an.
"Es ist klar: Die Mehrheit der Leute verlässt Ungarn, weil sie hier kein Auskommen finden, keine Perspektive sehen. Wenn wir wieder Wachstum haben, und die Leute sehen, hier können wir leben, werden sie wieder kommen. Wenn sie von ihrem Geld leben können, bleiben sie hier. Wenn nicht, gehen sie weiter ins Ausland. Ganz zu schweigen von der Demokratie. Wenn einer fragt, wie wird Ungarn in 20 Jahren aussehen? sagen wir: Geht in die Schulen – und wenn wir die Zustände dort sehen, wissen wir, wogegen wir kämpfen müssen."
Die Regierung malt die Dinge naturgemäß rosiger. Es gebe Wachstum. Das Land sei auf dem Weg der Besserung. Man habe Jobs geschaffen – das sind allerdings Buchhaltungstricks. Die Regierung rechnet die Auslandsjobber in die Beschäftigungs-Statistik hinein. Sowie eine Viertelmillion schlecht bezahlte gemeinnützige Jobs. Die Abwanderung der Eliten? Kein Problem, behauptet Regierungssprecher Ferenc Kumin.
"Die Anzahl derer, die im Ausland arbeiten, entspricht dem Durchschnitt der Region. Was uns freut ist, dass viele auch zurückkehren. Das bedeutet für Ungarn zusätzliches Wachstum. Denn sie haben Qualifikationen erworben, etwa Sprachen besser gelernt. Davon wird auch Ungarn profitieren. Denken Sie nur an die vielen ausländischen Unternehmen hier. Draußen erworbene Sprachkenntnisse bedeuten auch hier: Bessere, und besser bezahlte Jobs. Und dieser Trend hat bereits eingesetzt."
Doch wer kehrt zurück, wenn er im Ausland ein Vielfaches verdienen kann, und niemand in das eigene Leben reinredet? Vor zwei Jahren, im Winter, gehen die Studenten in Ungarn zu Tausenden auf die Straße. Die nationalkonservative Regierung Orbán will den Brain Drain, die Abwanderung der gut ausgebildeten Intellektuellen stoppen. In den Krankenhäusern fehlt bereits Personal. Denn jedes Jahr verlassen 1.500 junge Ärzte ihre ungarische Heimat. Ministerpräsident Viktor Orbán sagt.
Plakat der rechtsextremen Jobbik
Die rechtsextreme Jobbik wirbt in Ungarn vor allem um die Gunst der jungen Wähler.© Stephan Ozsváth
"Es wäre sinnlos, wenn wir uns den Luxus erlaubten, mit öffentlichen Geldern Studenten für die Deutschen, Österreicher oder Norweger auszubilden. Wir müssen ein Gleichgewicht herstellen – zwischen den Interessen der ungarischen Steuerzahler und denen junger Ungarn, die im Ausland arbeiten wollen."
Die Regierung beschließt deshalb Knebelverträge: Wer mit staatlichem Stipendium studieren will, der muss anschließend einige Jahre in Ungarn arbeiten. Sonst wird es teuer.
András Tichy stammt aus Südungarn, aus der Gegend von Békéscsaba an der rumänischen Grenze. Der 19-jährige hat an der renommierten Corvinus Universität in Budapest gerade angefangen, Finanzen und Buchhaltung zu studieren. Der junge Student hat den Knebel-Vertrag mit der Regierung unterschrieben.
"Ich studiere mit einem staatlichen Stipendium. Ich musste unterschreiben, dass ich hinterher fünf Jahre hier arbeite. Aber das möchte ich ohnehin. Aber wenn man ins Ausland geht zum Arbeiten, kann man die Studiengebühren auch zurück zahlen. Aber das wäre eine große Last, denn billig ist das Studium hier nicht. Ungefähr 1000 Euro pro Semester. Es wäre nicht leicht, das schnell zurück zu zahlen."
Auch der 20-jährige Csaba Déri studiert Wirtschaft an der Corvinus Universität. Er sieht die Sache etwas anders. Er würde ins Ausland gehen, sagt er. Allerdings: Nur aus politischen Gründen würde er das Land nicht verlassen.
"Es kommt darauf an, ob sie meine Wertvorstellungen sehr verletzen, dann würde ich ins Ausland gehen. Aber das Geld spielt eine große Rolle. Meine Eltern sind schon um die 60. In fünf Jahren muss ich meinen Unterhalt selbst finanzieren können. Und auch sie werde ich wohl unterstützen müssen, denn ihre Rente reicht vielleicht für die Nebenkosten. So muss ich auch Arbeit im Ausland ins Kalkül ziehen."
Ein paar Blöcke weiter – die altehrwürdige ELTE – die Eötvos Loránt-Universität in Budapest. Auf der Treppe steht der Geschichts-Student Abraham Barnabás aus Tatabánya. Im Brustton der Überzeugung sagt er.
"Ich bleibe hier in Ungarn, 100 Prozent-ig. Denn hier ist meine Heimat. Für die will ich etwas tun. Und nicht mein hier erworbenes Wissen im Ausland zu Geld machen. Es ist scheinheilig und schlicht unannehmbar, dass jemand die gute ungarische Ausbildung im Ausland zu Geld macht."
Für die Reinheit, Ehre und Tugend
Der junge Student ist ein Heimat-Treuer, sagt er. An seinem Hals baumelt ein Kreuz, deren Balken in Pfeilspitzen enden.
"Das ist ein Sankt-Ladislaus-Kreuz. Es ist das Symbol der Reinheit, Ehre und Tugend."
Das Kreuz ist vor allem eins: das Symbol der ungarischen Pfeilkreuzler – sie wurden 1944 von Hitler als Statthalter installiert: Sie haben zehntausende Budapester Juden in die eiskalte Donau geschossen. Und sie sind mit verantwortlich für die Deportation einer halben Million Juden in die Vernichtungslager. Wo steht der Student aus Tatabánya politisch?
"Die Regierungspartei hat einige gute, einige schlechte Maßnahmen ergriffen. Jobbik einige sehr gute. Zur Linken äußere ich mich besser nicht."
Der ungarische Gangsta-Rapper "Dopeman"
Der ungarische Gangsta-Rapper "Dopeman" will mit seiner Partei die Interessen der Jugendlichen vertreten.© Stephan Ozsváth
Der junge Historiker hat also Sympathien für die Regierungspartei von Ministerpräsident Orbán, aber vor allem für die Rechtsextremen. An der Budapester Universität unterrichtet auch die international bekannte Philosophin Agnes Heller. Sie ist Jüdin. Auch an ihrer Tür klebte im vergangenen Jahr ein Zettel mit der Aufschrift: "Juden, die Universität gehört uns, nicht Euch". Gezeichnet: Die ungarischen Studenten. Sie sagt heute über den Vorfall:
"Ich schäme mich, dass solche jungen Leute an der Universität sich so ausdrücken. Dass diese jungen Leute so dumme Antisemiten sind. Ich schäme mich, aber ich fürchte mich vor ihnen nicht, überhaupt vor nichts in Ungarn, erst recht nicht heute."
An der Eötvös Lórant Universität hatte ein rechtsextremer Studenten-Verband auch die Kommilitonen bespitzelt. Über Jahre hinweg wurden Listen geführt: Wer ist links, wer rechts, wer Jude?
Wahlkampf-Veranstaltung der Rechtsextremen in einem Budapester Arbeiterbezirk. Vor nicht einmal hundert Zuhörern spricht der Abgeordnete Márton Gyöngyösi. Jobbik macht besonders viele solcher Bürgerforen. Gyöngyösi machte international Schlagzeilen, weil er im Parlament an der Donau "Judenlisten" forderte. Hier gibt er sich bürgernah im Ton – radikal in den Forderungen.
"Wir möchten weiterhin eine Csendör-Garde aufbauen. Neben der Polizei. Strafe muss Strafe sein. Wir wollen keine Wellness-Gefängnisse, sondern richtige. Wir wollen eine Volksabstimmung über die Todesstrafe. Insbesondere bei Straftaten gegen Frauen, Kinder und Alte. Und bei Sexualstraftaten wollen wir die chemische Kastration."
Law-and-Order-Parolen – trotzdem ist die rechtsextreme Jobbik die beliebteste Partei unter ungarischen Studenten. Jeder Dritte würde sie wählen. Darauf ist der Abgeordnete Gyöngyösi stolz.
"Wir sind stolz darauf, dass wir bei den Jungen die beliebteste Partei sind. Und wer die Atmosphäre an den Universitäten kennt, weiß, dass Jobbik unter den Studenten mit Abstand die Partei Nummer Eins ist. Wir sind präsent auf Open-Air-Veranstaltungen – dort können wir viele Leute mobilisieren, und wir machen ständig Kampagnen für die Jungen."
Parallel zum Aufstieg von Jobbik ist in den letzten Jahren eine rechtsextreme Subkultur entstanden - mit entsprechendem Merchandising: T-Shirts, Aufkleber, Musik. Bands wie "Kárpátia" oder "Nationale Front" liefern den völkischen Soundtrack. Da wird Großungarn beschworen. Da wird gegen Juden, gegen den Westen, gegen Roma gehetzt - eine musikalisches Ideologie-Angebot von ganz rechts in rot-weiß-grünen Farben.
Der Rechtsrock boomt
Von dem ungarischen Rechtsrock will Sándor Pápai nichts wissen. Der 51-Jährige betreibt in Budapest einen gut sortierten, kleinen Plattenladen. CDs und Konzert-Karten von Kárpátia und anderen Rechtsrock-Bands verkauft er nicht, sagt er. Aus Prinzip. Er lässt sich ein gutes Geschäft entgehen.
"Die gehen tierisch gut. Da spielt Qualität keine Rolle. Es reicht die ideologische Zugehörigkeit. Es ist so einfach, mit inem Kárpátia-Konzert – egal wo – den Saal zu füllen. Man muss nur die ungarische Flagge auf die Plakate drucken, ein, zwei Symbole, und alle gehen hin. Weil die Ideologie stimmt. Und selbst dann, wenn man Rockmusik nicht mag, oder die einfach Mist ist."
Doch wieso ist eine radikal rechte Partei und der entsprechende völkische Soundtrack bei jungen Ungarn so beliebt? Der Politologe Zoltán Kisszelly erklärt den Erfolg der Rechtsextremen so.
"Die Jugend hat zwei Möglichkeiten – wenn sie nicht so leben will wie ihre Eltern, von 600, 700 Euro und keine gute Perspektive zu haben. Entweder können sie in London kellnern, oder sie wünschen sich einen radikalen Wandel in Ungarn selbst. Und diesen radikalen Wandel erhoffen sie sich nicht von den abgewirtschafteten alten Parlamentsparteien, sondern von den neueren Parteien, als da sind: Die Rechtsradikalen, die haben einen Zuspruch von einem Drittel, oder von den Grünen – die haben einen Zuspruch von 25 Prozent bei den unter 25-Jährigen."
Am Nationalfeiertag, dem 15. März, demonstrieren Aktivisten einer neuen Facebook-Gruppe gegen die Rechtsextremen in Budapest. Sie halten Transparente in die Höhe: Wähle gegen Jobbik! In Sprech-Chören bezeichnen sie Jobbik-Chef Gábor Vona als Nazi. Er soll abhauen. Ein Sprecher sagt:
"Wir haben eine einfache Botschaft. Wir wollen, dass am 6. April möglichst viele Leute wählen gehen. Und gegen Jobbik stimmt. Wer zu Hause bleibt, stärkt Jobbik. Deshalb: Je mehr wählen gehen, und für eine demokratische Partei stimmen, desto geringer wird der Anteil für Jobbik. Es gibt bei uns Leute, die für die Regierungspartei stimmen, für die Linken, für die Grünen. Vor allem: Nicht für Jobbik. Das ist klar."
Und auch László Pitynger will die Interessen der Jungen vertreten. In Ungarn ist er bekannter unter seinem Künstlernamen "Dopeman". Er ist ein Gangsta-Rapper. Und er schickt nicht nur alle etablierten Parteien zum Teufel. Dopeman hat jetzt selbst eine "Ungarische Jugend-Partei" gegründet. Er nennt sie doppeldeutig "MAFIA". Warum dieser Name ? Weil Ungarn derzeit eine Art Mafia-Staat ist, sagt Dopeman: Ein Kartell – rund um die Regierungspartei Fidesz, mit einem Paten Viktor Orbán an der Spitze – dem Ministerpräsidenten. Es werde ein Theater-Stück gespielt, sagt er: Nach außen hin sehe alles gut aus, dahinter seien Frust und Hass und eine erstarkende Rechtsextreme. Dopemans Alternative:
"Es geht bei dieser Partei nicht nur um die Jugend. Jugend ist auch das Synonym für Dynamik. Wir brauchen ein neues, junges Denken hier – damit ein neues Ungarn entstehen und ein neues Denken Raum gewinnen kann. Auf jeden Fall ein sehr demokratisches, eine Gesellschaft auf der Grundlage von Motivation, und nicht wie jetzt, auf der Grundlage von Strafe. Ich stelle mir eine Gesellschaft nach westlichem Muster vor."
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