Studium in der Pandemie

Zurück zu den Eltern

06:51 Minuten
Ein Mann und eine Frau tragen Kisten in eine Wohnung.
Studieren bedeutet oft auch, endlich weg von zu Hause zu sein. Und dann mussten viele auf einmal doch wieder zurück zu den Eltern. © imago images / Jochen Tack
Von Lena Sterz · 13.07.2020
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Während des Corona-Lockdowns wurden viele Studierendenheime geschlossen, und viele junge Erwachsene mussten wohl oder übel zurück ins Elternhaus ziehen. Diese ungewollte Wiedervereinigung hat zuweilen beide Seiten herausgefordert.
"Man muss sich jedes Mal wieder umgewöhnen. Man entwickelt ja schon eine Eigendynamik, wenn man nur zu zweit wohnt, und wenn dann plötzlich wieder jemand im Bad rumwuselt, was ja in vielen Familien wahrscheinlich ein Streitpunkt ist, dann denkt man sich: Echt jetzt, muss das sein? Ich wollte da doch jetzt rein ... Man muss sich umgewöhnen."
Astrid Rieger ist Mutter von zwei Kindern Mitte 20. Tochter Jaqueline war gerade außerplanmäßig viel länger als gewöhnlich, nämlich drei Wochen lang, zu Besuch, um einen Teil des Corona-Lockdowns statt in ihrer kleinen Studentinnen-Wohnung in der Großstadt bei ihren Eltern auf dem Land im Norden von Deutschland zu verbringen. Beide Seiten sagen, dass das eine besondere Zeit war.
"Meine Eltern waren jetzt auch natürlich beide die ganze Zeit im Homeoffice und beide die ganze Zeit zu Hause – was die ganze Sache jetzt auch nicht unbedingt einfacher gemacht hat."

Das ist die Zusammenfassung von Tochter Jaqueline – zwei voneinander unabhängige Systeme, Jaqueline, die schon vor fünf Jahren ausgezogen ist und die Eltern, die sich ihren neuen Alltag zu zweit schön gemacht haben, treffen auf einmal wieder aufeinander. Obwohl sie sich gerne mögen und ein enges, freundschaftliches Verhältnis haben, wie sie sagen, ist das trotzdem eine kleine Ausnahmesituation.

Wenn die Kinder auf einmal wieder da sind

in großer Teil der Studierenden flieht aktuell zurück zu den Eltern. So eine Ausnahmesituation erlebt auch die systemische Familientherapeutin Anke Lingnau-Carduck gerade. Sie ist auch Mutter zweier erwachsener Kinder und kann nachvollziehen, wie es für Eltern ist, wenn die Kinder wieder für längere Zeit zu Hause einziehen. Das sei schon etwas Besonderes.
"Ja, und meist mit großer innerlicher Aufregung verbunden. Was wird es werden, wird es so wie vorher werden oder wird es anders werden? Auf jeden Fall: Schön, dass du mal wieder da bist und wir ein bisschen mehr Zeit miteinander haben."
Auch bei Jaqueline und ihren Eltern gab es ein wenig innerliche Aufregung, sagt die Tochter: Sie hat die ganze Situation anfangs so unruhig gemacht, dass sie sich im Haushalt austoben musste.
"Ich hab dann halt so Sachen gemacht wie Fensterputzen im ganzen Haus."
So gehen längst nicht alle Kinder mit der neuen Situation um. Aber genauso erwachsen, wie sich Jaqueline im Haushalt verhält, geht sie auch mit Streitereien bei den Eltern um – und mischt sich auch schon mal ein.
"Weil meine Eltern sich halt manchmal kabbeln wie kleine Kinder. Was ja verständlich ist, wenn man so lange verheiratet ist, man geht sich halt irgendwann auf die Nerven. Und ich sitz dann da und denke: Aah! Warum provoziert ihr euch denn schon wieder gegenseitig? Können wir nicht einfach diese Grundsatzdiskussionen sein lassen? Ich fang dann an, laut zu werden und schwanke dann schnell in dieses Hysterische über und werde dann doch wieder zum Teenie."
Was Jaqueline nicht weiß: Diese Kabbeleien und Frotzeleien, die kommen gar nicht vor, wenn sie nicht da ist, erzählt Mutter Astrid.
"Wenn wir beiden hier alleine sind, dann ist das eigentlich ein harmonisches Miteinander. Komischerweise, wenn die Kinder da sind, dann habe ich das Gefühl, dass er dann Bock hat, mich permanent irgendwie zu triezen – ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll, als wenn er sich vor seinen Kindern profilieren will. Ich kann das gar nicht in Worte fassen. Es ist wirklich ein anderes Verhalten mir gegenüber dann."

Zurück in alten Familienmustern

Plötzlich wird der eingespielte Alltag, das Zweiersystem, durcheinandergebracht. Das äußert sich natürlich in jeder Familie anders, und die Kinder haben das oft gar nicht im Blick. Familientherapeutin Anke Lingnau-Carduck, die auch Vorsitzende des entsprechenden Bundesverbands DGSF ist, überrascht das nicht und hat dafür eine Erklärung.
"Wenn wir zurückkehren in unser Elternhaus, dann sind wir natürlich auch ganz schnell wieder in den alten, familiären Mustern drin. Diese alten Muster greifen in Verhalten, in Gefühlen und lassen eben auch sehr affektive Reaktionen zu. Und dann finde ich mich schneller, als ich gucken kann, wieder in etwas Altem, was ich eigentlich schon verlassen hatte."
Sie rät den Kindern dazu, es offen anzusprechen, wenn sie nicht ganz zufrieden oder etwas unsicher in der neuen Situation zurück im Elternhaus sind. Sie rät dazu, sich gewissermaßen, auf eine neue Gesprächsebene zwischen zwei Erwachsenen zu begeben.
"Es wäre so ein erster Anfang, auch deutlich zu machen: Ich bin autonom und selbstständig und habe etwas Neues gelernt. Und wenn ich jetzt hier wieder Gast bin, dann möchte ich gerne auch wissen, was ist hier anders und was wünscht ihr euch eigentlich von mir? Was soll denn jetzt auch anders sein zwischen uns?"

Verstehen, dass die Kinder erwachsen sind

Aber auch für die Eltern gelte es, sich Gedanken darüber zu machen, dass sie einen Teil ihres Fürsorgebedürfnisses gegenüber ihren Kindern ablegen müssen, damit eine neue, erwachsenere Art der Beziehung entstehen kann. Was oft passiere sei…
"…dass man wieder als Eltern automatisch, ähnlich wie die Kinder, an alte Muster anknüpft und sagt: Pass aber auf! Oder einem eine Frage rausrutscht wie: ´Wo gehst du hin, wann kommst du nach Haus?`"
Es gebe klare Unterschiede in der Herangehensweise an die Situation von Eltern und Kindern.
"Ich glaube, für Eltern ist es anders als für die Kinder, dass die mehr lassen machen müssen, mehr loslassen. Während die Kinder mehr Neues geben können, sozusagen."
Um deutlich zu machen, wie man sich weiterentwickelt hat und erwachsener geworden ist, könne man neue Fähigkeiten in das Zusammenleben mit den Eltern einbringen – etwa ein neues Gericht kochen – oder Fenster putzen, wie Jaqueline. Ihre Mutter nannte sie scherzhaft ihre "Haushaltshilfe", als sie wieder zurück in die Studienstadt fuhr.
"Das war dann irgendwann, als wenn sie gar nicht ausgezogen wäre – man hat sich so richtig wieder aneinander gewöhnt und tatsächlich war es dann, als sie wieder weggefahren ist, musste man sich wieder an das andere gewöhnen, sag ich mal so."
Der Rat der Familientherapeutin ist, sich vor dem Abschied nochmal Zeit zur Reflexion zu nehmen.
"Wenn die Kinder wieder an ihren Studienort gehen, dass es dann auch noch mal ein Gespräch gibt, einen Ausblick in die Zukunft: Was hat sich jetzt für uns verändert und wo gucken wir drauf, was werden wir zukünftig machen?"
Für Jaqueline und Astrid Rieger ist die Coronazeit eine Zeit, in der sie nochmal ein paar Wochen lang wie früher zusammengelebt haben. In vielen Familien ist das jedoch weniger harmonisch verlaufen.
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