Studienräte und Rentner mucken auf

Rezensiert von Ralph Gerstenberg |
Wissenschaftler mischten sich im Auftrag des Mineralölkonzerns BP unter die so genannten Wutbürger und stellen in ihrer Studie fest, dass die Kluft zwischen Protestlern und Politik als unüberwindbar empfunden wird. Die einstige DDR-Bürgerrechtlerin Daniela Dahn lässt sich zu einer Generalabrechnung mit der Demokratie hinreißen.
Der Begriff "Wutbürger" wurde mittlerweile in den Duden aufgenommen. Er steht für jene in der Bevölkerung, die von der Politik enttäuscht sind, lange geschwiegen haben und nun ihrer Empörung Luft machen.

Spätestens seit "Stuttgart 21", als pensionierte Lehrer neben ihren ehemaligen Schülern tapfer im Wasserwerferstrahl Stellung bezogen, ist Protestbewegung keine Jugendbewegung mehr. Und die Wut der Betagten ist noch lange nicht verraucht. Sie pflanze sich fort, schreibt Franz Walter über "die neue Macht der Bürger". Darum möchte er dem Phänomen der "Wutbürger" endlich eine solide wissenschaftliche Grundlage geben.

Eingestandenermaßen "salopp" und weniger wissenschaftlich solide, orakelt er noch eingangs.

"Spätestens zwischen 2015 und 2035 werden sich Hunderttausende hochmotivierter und rüstiger Rentner mit dem gesamten Rüstzeug der in den Jugendjahren reichlich gesammelten Demonstrationserfahrungen in den öffentlich vorgetragenen Widerspruch begeben.

Das Altern der Republik wird also keineswegs zu Gleichgültigkeit in den öffentlichen Angelegenheiten führen – im Gegenteil."


Doch was motiviert die Proteste, fragte sich der Soziologieprofessor gemeinsam mit einem Autorenteam aus dem Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Also mischten sich die Wissenschaftler als teilnehmende Beobachter unter Aktivisten, die gegen den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs oder den Ausbau des Münchner Flughafens protestierten. Sie sprachen mit Gegnern von Atomkraftwerken und Windparks, berichteten aus den Zeltdörfern der Occupy-Bewegung. Auch Satire und Proteste im Internet wurden analysiert.

So stellten sie fest, dass die Kluft zwischen Bürgern und Politik als unüberwindbar empfunden wird. Enttäuschung schlage um in Empörung über Inkompetenz, Machtspiele und Lobbyismus. Die Protestierenden wollten nicht für dumm verkauft werden.

"In ihren Erzählungen wird vor allem deutlich, dass es in erster Linie um die Anerkennung sozialer Wertschätzung geht und dass man sich in seiner Funktion als Bürger verletzt sieht.

Die gemeinsame Produktivität wird somit zu einer eigenen Quelle des Selbstbewusstseins, produziert man doch ein Gefühl dafür, wie gesellschaftliches Zusammenwirken gelingen könnte."


Auch wenn politische Ziele nicht erreicht werden, bleibt die Erfahrung, doch etwas gewonnen zu haben, nämlich ein neu erlebtes Gefühl, Macht zu haben, Protest Ausdruck zu verleihen. Viele möchten sich deshalb auch weiterhin politisch engagieren.

Etwas irritierend ist es schon, dass diese Studie von BP "initiiert und gefördert" wurde, also von einem Energie-Konzern, der selbst "Ziel von Protesten war und ist", wie Michael Schmid, der Vorstandsvorsitzende für Europa, in seinem Vorwort einräumt. So könnte man den Eindruck gewinnen, die Autoren würden ihrem Auftraggeber Entwarnung geben, indem sie festhalten, dass nur wenige der Befragten nach direkter Demokratie verlangten.

"Ein eigentlich fast beruhigendes Ergebnis, solange die Demokratie der Gesellschaft diese Erlebnisse auch weiterhin einräumt."

Wenn Proteste zu einer Art Therapieform, zu einem "Erlebnis" für frustrierte Bürger werden, müssen Unternehmer und Politiker sie nicht sonderlich fürchten. Vielleicht ist das eine Erkenntnis dieser Untersuchung.

Daniela Dahn hingegen genügen Proteste nicht. Nicht um den Ungehorsam gegen den Staat geht es ihr. Denn die Bürger seien selbst der Staat. Deshalb fordert sie eine "Pflicht des Gehorsams für den Staat".

"Warum? Durch Weigerung ist Macht nicht zu bekehren, die Konflikte haben Dimensionen angenommen, die nur noch durch Selbstermächtigung zu lösen sind. (...) Die Wutbürger erproben ihre Macht nicht.

Die einzige Begrenzung der Macht wäre die Gesetzgebung. Von der sind sie ausgeschlossen. Sie haben keine andere Wahl, als Leute zu wählen, die nicht die Absicht haben, ihre Versprechen einzuhalten."


Die einstige DDR-Bürgerrechtlerin und Mitbegründerin der Oppositionsgruppe "Demokratischer Aufbruch" will, dass der Staat wieder zum "Herrschaftsinstrument des Volkes" wird. Amtierende Volksvertreter würden von achtzig Prozent der Bevölkerung für überfordert oder inkompetent gehalten. Und die Wirtschaft habe sowieso längst das Steuer übernommen.

Somit sei die repräsentative Demokratie nichts anderes als eine Scheindemokratie, die ihre Legitimität längst verloren habe.

"Demokratie misst sich an den Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Gemeinwohl. Gebraucht wird ein neuer Gesellschaftsvertrag, der der menschlichen Vernunft verpflichtet ist, nicht dem Finanzkapitalismus. Dazu ist der jetzige Staat nicht gewillt, weil er verfilzt ist mit den Finanzkräftigen."

Daniela Dahn holt weit aus. Sie zeigt, wie seit dem Römischen Recht das Privateigentum geschützt und das Humankapital gering geschätzt werde. Wer viel habe, habe das Sagen - heute mehr, denn je. Chancen, dies zu ändern, seien nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Mauerfall leichtsinnig vertan worden.

Und das Volk, der Souverän, müsse ohnmächtig zusehen, wie das von ihm erarbeitete Vermögen zur Rettung von Banken und für umstrittene Milliardenprojekte eingesetzt werde. Seine Meinung sei schlicht nicht gefragt. Und das müsse sich ändern, schreibt sie in ihrer Streit- und Denkschrift.

Staatseigentum werde wie "Privateigentum" staatlicher Behörden behandelt. Stattdessen sollte es in Gemeineigentum überführt werden, über das als Eigentümer das Volk in einer Art Rätesystem an Runden Tischen und in Bürgergremien entscheide.

Das alles klingt ziemlich utopisch. Das ist auch Daniela Dahn klar, aber: die Zeiten ändern sich.

"Wer all das für Phantasmagorien hält, sei daran erinnert, dass die vor Jahren von Attac erhobene Forderung nach einer Transaktionssteuer auf Devisengeschäfte nun zur allgemeinen Überraschung vom Europaparlament durchgewinkt wird."

Auch wenn es momentan nicht so aussieht - wer weiß? Vielleicht werden die Bürger ja eines Tages tatsächlich Macht nicht nur spüren oder "erleben", sondern ergreifen.

Die Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zeigt den Status Quo einer politisch in Bewegung geratenen Bevölkerung, während Daniela Dahn bereits über Perspektiven nachdenkt. Beide Bücher beschreiben auf sehr unterschiedliche Weise eine Gesellschaft, in der Menschen begreifen, dass zu viele Entscheidungen nicht in ihrem Sinne getroffen werden.

Cover: "Franz Walter: Die neue Macht der Bürger"
Cover - "Franz Walter: Die neue Macht der Bürger"© Rowohlt Verlag
Cover: "Daniela Dahn: Wir sind der Staat"
Cover - "Daniela Dahn: Wir sind der Staat!"© Rowohlt Verlag

Franz Walter (Hg.): Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die
Protestbewegungen?

Rowohlt Verlag, Reinbek 2013
304 Seiten, 16,95 Euro

Daniela Dahn: Wir sind der Staat! Warum Volk sein nicht genügt
Rowohlt Verlag, Reinbek 2013
176 Seiten, 16,95 Euro