Studentendorf Schlachtensee in Berlin

Frühbucherrabatt für Studierende auf Wohnungssuche

08:09 Minuten
Ein Student geht zu Haus Neun des Studentendorfs Schlachtensee in Berlin. Das Haus wurde renoviert.
Das Studentendorf Schlachtensee gilt als eine der Keimzellen der 68er-Studentenbewegung. Der Leerstand durch das Coronavirus ist für die heutigen Betreiber existenzbedrohend © picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert
Von Anja Nehls · 28.08.2020
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Für Studierende in der Hauptstadt ist es normalerweise eine Kraftanstrengung, eine bezahlbare Unterkunft zu finden. Corona hat auch das verändert: Das Studentendorf Schlachtensee sucht dringend Bewohner für seine sanierten Häuser mit Geschichte.
Im fünften Stock ist der Blick von der Wohnküche aus auf die übrigen Häuser des Studentendorfes Schlachtensee fantastisch. Hier sind die Zimmer einer Sechser-WG schon fix und fertig möbliert, im Bad riecht es noch nach frischer Farbe, die Edelstahlküchen blitzen nagelneu und es gibt für jeden ein abschließbares Fach im Küchenschrank.
"Wir haben immer mal wieder Konflikte, dass die Pizza geklaut worden ist, dass der Joghurt geklaut worden ist, manchmal auch die Freundin ausgespannt, sowas gibt es auch und deshalb haben wir jetzt gesagt, kriegt jeder hier sein abschließbares Fächlein", sagt Andreas Barz von der Genossenschaft Studentendorf Schlachtensee, die die Anlage betreibt. Seine Kollegin Petra Resech fügt scherzhaft hinzu: "Aber wenn er seine Freundin im Küchenschrank lässt, ist er ja selber schuld. Dafür können wir nichts."

Erasmus-Studierende können nicht kommen

Die beiden sind ziemlich stolz auf die beiden frisch sanierten Häuser. Allerdings fehlen noch die Bewohner. Von 900 Wohneinheiten im Studentendorf Schlachtensee sind wegen Corona zurzeit gut 170 frei – und das in einer Stadt, in der Studierende normalerweise händeringend Wohnraum suchen, erklärt Petra Resech.
"Wir hatten die Anzahlung, wir hatten alles. Und dann hieß es, wir können nicht kommen, Wir dürfen nicht einreisen, wir dürfen nicht ausreisen. Die Universitäten haben uns geraten, nicht zu kommen, meine Heimatuniversität lässt mich nicht mehr gehen." Denn, so Resech: "Wir haben eben zum großen Teil Erasmus-Studierende und Programmstudierende, die dann einfach nicht kommen konnten."

Verhältnismäßig billig und alles dabei

Deshalb ist es jetzt gerade recht einfach, hier eine Unterkunft zu bekommen. Noch vor einem halben Jahr wäre das undenkbar gewesen. Helene Bardella ist direkt aus ihrem Elternhaus im benachbarten Potsdam hierhergezogen. Ihre eigene Studentenbude in einem der weiß-grauen denkmalgeschützten 50er-Jahre-Häuser des Studentendorfs kostet knapp 300 Euro und ist 13 Quadratmeter groß. Für Helene ist der Mietvertrag jetzt wie ein Sechser im Lotto.
"Ich studiere Biochemie. Das heißt, ich habe recht wenig Zeit, einen Job zu haben. Das heißt, eine richtige Wohnung konnte ich mir nicht leisten. Das hier ist für Studenten verhältnismäßig sehr billig und dafür bekommt man eigentlich alles. Ich muss mich um gar nichts kümmern, die Möbel waren da. Ich muss nur meinen eigenen Raum sauber halten, das ist sehr angenehm." Sie habe auch relativ schnell Freundschaften knüpfen können. "Gerade in meinem Haus sind, glaube ich, nur zwei Leute außer mir, die Deutsch sprechen. Alle anderen sprechen irgendwas anderes. Man verständigt sich auf Englisch, das ist aber kein Problem."

Durch Bewohner vor dem Abriss gerettet

Und genau diese Internationalität ist es, was das vielleicht bekannteste Studentendorf Deutschlands oder sogar Europas auch ausmacht. Die Häuser im Berliner Südwesten waren ein Geschenk der amerikanischen Regierung als Wohnstätte für die Studenten der nahe gelegenen Freien Universität. 1959 wurde das Studentendorf Schlachtensee, benannt nach dem Berliner Ortsteil und dem gleichnamigen See, eröffnet. Zur Jahrtausendwende sollte es wegen fortschreitenden Verfalls abgerissen werden. Dagegen protestierten die Bewohner und gründeten eine Genossenschaft, die das Dorf seitdem zu neuem Leben erweckt hat.
ILLUSTRATION - Conception Pettinari, italienische Studentin an der Freien Universität Berlin, steht am 16.10.2015 im Studentendorf Schlachtensee in Berlin in der Gemeinschaftsküche. Das Studentendorf war in den 1950er Jahren von der amerikanischen Regierung gestiftet worden. Haus Neun gehört zu vier zwischenzeitlich renovierten Häusern. Foto:  | Verwendung weltweit
Abschließbare Fächer in den Küchen sollen im Studentendorf Schlachtensee gegen Essensdiebe helfen.© picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert
Dass es hier fast nur Wohngemeinschaften und normalerweise 80 Prozent ausländische Studierende gibt, hat seinen Grund, sagt Andreas Barz: "Die Idee ist, dass die Menschen hier Demokratie lernen." Es sei eines der großen bundesrepublikanischen Demokratieprojekte. "Und hier sollen sich Leute aus der ganzen Welt treffen, sollen voneinander lernen, sollen Sprache lernen, sollen Kultur voneinander lernen und wie man auf ganz unterschiedliche Art ein bestimmtes Gericht kocht. All das gehört eben auch dazu. Und sie sollen dann möglicherweise als erwachsene Menschen hinaus in die Welt und ihren Weg gehen."

Dutschke, Grass, Strauß sind hier aufgetreten

Das Studentendorf Schlachtensee gilt als eine der Keimzellen politischen Lebens der 68er-Studentenbewegung. Andreas Barz zeigt auf Haus 14 mit dem alten Club A18, benannt nach der vor der Tür verkehrenden Buslinie.
"Haus 14 mit dem Theatersaal, quasi unser großer Kulturpalast, von einigen auch kleine Philharmonie genannt, so nach Scharoun, Stadtlandschaft auch in der Architektur: Da sind ganz viele architektonische Vorbilder." Da habe auch politische Debattenkultur stattgefunden, erklärt Andreas Barz. "Da ist Rudi Dutschke aufgetreten, Günter Grass, Franz Josef Strauß, der ehemalige bayrische Ministerpräsident, hat dort Vorträge gehalten. Da ist die 68er-Revolution vorgedacht und quasi an den Campus der Freien Universität getragen worden, also ein ganz wichtiger historischer Ort."
Ein historischer Ort, der zurzeit wegen Corona geschlossen ist. Überhaupt ist die Ruhe durch die wenigen Bewohner auf den Wegen und Wiesen im Dorf schwer erträglich für Andreas Barz. Für die Genossenschaft Studentendorf Schlachtensee ist die Situation existenzbedrohend. Die Mitarbeiter machen Kurzarbeit und es sind eine halbe Million Euro Schulden aufgelaufen. Nun versucht er kreativ den Leerstand zu beseitigen, zum Beispiel durch die Unterbringung von jungen Auszubildenden und mit einem Frühbucherrabatt für Studierende des kommenden Wintersemesters.

Auch Quarantäne wäre organisierbar

"Bucht euch einen Flieger, kommt nach Berlin, der Sommer in Berlin ist auch schön. Weil wir ja nicht genau wissen, was im Herbst passiert: Sind die Grenzen wieder zu? Sind die Coronaregeln dann wieder verschärft? Wir haben jetzt gerade die Chance, dass ihr alle kommen könnt, weil die Plätze da sind", so Andreas Barz weiter.
Eine junge Frau sitzt an einem Schreibtisch in einem kleinen Zimmer im Studentendorf Schlachtensee.
Die Zimmer im Studentendorf sind nicht groß, haben aber alle notwendigen Möbel integriert.© picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert
Auch wenn Bewohner in Quarantäne müssen, wäre das organisierbar. Zum Beispiel in Form von Quarantäne-WGs. "Da müssen wir dann gucken, wie das mit der Versorgung funktioniert." Das könnten sechs Leute sein, die aus verschiedenen Ländern einreisen. Anfangs müssten sie einen Test machen und dann die Quarantänezeit zusammen verbringen, erklärt Andreas Barz.

Nachteil: recht weit draußen

Im Dorf gibt es ein Rathaus für die studentische Selbstverwaltung, eine Bibliothek, ein Waschcenter, einen Fitnessraum und eine Buslinie, die zur S-Bahn oder U-Bahn fährt, um dann in die Berliner City zu kommen. Denn das ist der einzige Nachteil, den so manche Studierende hier sehen: Das Studentendorf ist recht weit draußen im Bezirk Zehlendorf im Berliner Südwesten.
"Berlin wird anders dargestellt in der Welt", so Andreas Barz. "Berlin ist eben Friedrichshain-Kreuzberg und alles." Viele kämen ins Studentendorf und seien ein bisschen enttäuscht, dass sie doch ein Stück weit weg sind von der Stadt. "Aber ich denke, auch die lernen es einfach zu lieben, weil sie hier auch einen Rückzugsort haben, wo sie Ruhe haben, wo sie einfach im Grünen sind und nicht den Tumult haben."

"Kein Hausmeister, der meckert"

In anderer Hinsicht sei das Studentendorf Schlachtensee dann eben doch wieder cool, meint Andreas Barz: "Hier gibt es keinen Hausmeister, der meckert und der sagt, hier darfst du nicht grillen und hier darfst du dieses und jenes nicht. Wenn man alles wieder aufräumt und sauber macht, kann man hier alles machen." Wenn man den Freiraum, den die Häuser bieten, für sich nutze, sei das ein cooler Ort, ist Andreas Barz überzeugt.
Marchall Odilov hat nichts zu meckern. Er stammt aus Russland, studiert im dritten Semester Informatik und wohnt seit November hier im Studentendorf. Während der Coronazeit ist er einfach hier geblieben, der Bildung und der Unterhaltung wegen: "Wenn man mit anderen Studenten lebt, ist das wirklich gut. Wenn man allein wohnt, ist das manchmal ein bisschen langweilig. Aber hier ist jeden Tag Party." Man lerne andere Studenten kennen, könne hier viele Freunde haben. "Das ist alles auch gut."
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