Stuart Hall: "Vertrauter Fremder"

Ein Leben zwischen allen Stühlen

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Buchcover von Stuart Halls "Vertrauter Fremder - Ein Leben zwischen zwei Inseln" vor Deutschlandfunk Kultur Hintergrund.
Der britische Kulturwissenschaftler Stuart Hall, der aus Jamaika stammt, erzählt in "Vertrauter Fremder" vom Gefühl des Dazwischen. © Argument Verlag / Deutschlandradio
Von Ingo Arend · 14.05.2020
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Die posthum erschienene Autobiografie des einflussreichen Kulturwissenschaftlers Stuart Hall verknüpft wissenschaftlichen Werdegang mit Persönlichem – und dem großen Ganzen der Kolonialgeschichte des 20. Jahrhunderts.
"Wer mit sich identisch ist, kann sich einsargen lassen, der existiert nicht mehr, ist nicht mehr in Bewegung. Identisch ist ein Denkmal." Stuart Hall hätte das Bonmot des Dramatikers Heiner Müller vermutlich sofort unterschrieben. Denn wenn es ein Kontinuum in Leben und Theorie des britischen Soziologen gab, dann das Fragwürdige fester Zuschreibungen.

Das letzte "koloniale Subjekt"

Geboren wurde der spätere Universitätsprofessor 1932 im damals von den Briten beherrschten Jamaika. Deswegen spricht er in seiner Autobiografie, die aus Gesprächen Halls mit dem Londoner Anglisten Bill Schwarz kurz vor seinem Tod 2014 erwuchs, wiederholt von sich als "letztem kolonialen Subjekt". Diese Prägung führte, so schreibt er gleich zu Beginn, zu einem lebenslangen "Prozess der Entidentifizierung".
Das Gefühl des Dazwischen hat Hall nie verlassen. In Jamaika sucht der Abkömmling einer gehobenen, ethnisch gemischten Mittelschichtsfamilie seinen Platz zwischen den weißen Plantagenbesitzern und den armen Schwarzen in den Vorstädten.
1951 kommt er als 19-jähriger Student nach Großbritannien. Doch auch dort verlässt den "Rekruten der Moderne" und Verehrer der Literatur von Henry James und John Keats nie das "Gefühl des Deplatziertseins". "Vertrauter Fremder", der Titel seines Buchs, meint genau diese Position.
Zwischen allen Stühlen saß der Wissenschaftler auch politisch. Seine "symbolische politische Geburtsstunde", so erinnert er sich, erlebte er bei den Arbeiteraufständen 1938 gegen die Briten in der Karibik.
Unter dem Eindruck der Suez-Krise, der Verurteilung Stalins auf dem 20. Parteitag der KPdSU und dem durch sowjetische Truppen niedergeschlagenen Aufstand in Ungarn 1956 weitet sich dann sein früher Antikolonialismus zu dem Weltbild des undogmatischen Sozialismus und humanistischen Marxismus, dem er sich fortan zugehörig fühlte. Hall stand gleichsam zwischen Labour und Stalin.

Geschichte des Lebens und der Theorie

1960 wird der junge Akademiker erster Chefredakteur der "New Left Review", des Leitorgans dieser Strömung. Seine Absage an die führende Rolle des Proletariats und sein Glaube an die Bedeutung der Massenkultur legten den Grundstein für die "Cultural Studies", als deren Mitbegründer Hall gilt.
Zwar ist es schade, dass Hall sein Buch mit dem Beginn der 1960er-Jahre enden lässt. Damals begann sein Aufstieg als Kulturwissenschaftler erst. Was sein Buch dennoch so lesenswert macht, ist, wie er seine Lebens-, Kolonial- und linke Theoriegeschichte verbindet.
Hall kann genauso gut von seinen Ausflügen in das "dunklere Jamaika" der armen Stadtviertel und Bergdörfer mit ihren synkretistischen Riten erzählen, wie er Begriffe wie "race" und "class" theoretisch herleiten oder über Jazz und Blues schwärmen kann.
Als junger Mann träumte Hall davon, ein "schwarzer Intellektueller" zu werden. Doch er entwickelte sich zum Gegner aller Essenzialismen. Sein Buch ist ein beeindruckendes Zeugnis für die produktive Kraft eines Lebens im "Dritten Raum" der Diaspora, wo alle existenziellen Gewissheiten ins Fließen geraten.
"Identität, im Singular, wird niemals abschließend erlangt", schreibt Hall, "Identitäten, im Plural, sind die Mittel des Werdens".

Stuart Hall: "Vertrauter Fremder. Ein Leben zwischen zwei Inseln"
Deutsch von Roland Gutberlet
Argument-Verlag, Hamburg 2020
304 Seiten, 36 Euro

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