Struwwelmadonna und der plärrende Zwerg

28.10.2013
Vor dem historischen Hintergrund der Revolution von 1848 entwirft László Darvasi in "Blumenfresser" eine märchenhaft-wunderliche Geschichte um fünf Charaktere und einen geheimen Lenker im Hintergrund. Kunstvoll und spannungsreich erzählt ist sein Roman. Dennoch überzeugt er nicht.
László Darvasi hat sich mit Erzählungsbänden, in denen üppige Fantasien und krude Gewalt auf unvergessliche Weise zusammenfinden, in die erste Reihe der ungarischen Literatur geschrieben. Sein neuer Roman "Blumenfresser" spielt vor dem Hintergrund der vom Dichter Sándor Petöfi angeführten Revolution von 1848, ihrem Scheitern und der habsburgischen Repression. Doktor Schütz blickt am Vorabend des Hochwassers, das das südungarische Szeged 1879 fast völlig zerstören wird, zurück auf die letzten Jahrzehnte. Der zeitweise erblindende Arzt ist der geheime Lenker des verwickelten Geschehens um fünf Hauptpersonen, die dieselbe Zeit in je einem eigenen Kapitel durchleben. Wie in Akira Kurosawas Film "Rashomon" wird eine Realität aus verschiedenen Perspektiven geschildert.

Die historischen Ereignisse bilden den Hintergrund für ein oft märchenhaft-wunderliches Geschehen. Imre ist ein Träumer und Botaniker, der auf den Straßen Szegeds Blumen aussät. Sein riesenhafter Bruder Peter lebt ungestüm im Augenblick. Beider Halbbruder Adam ist weißhäutig und verbreitet Angst und Schrecken, um endlich nicht mehr übersehen zu werden. Zigeunerkönig Gilagóg will mit einem blau leuchtenden, beständig "Gebt mir Geld" plärrenden Zwerg die Weltgeschichte der Zigeuner erzählen. Klara schließlich hat ein Stigma auf der Hand, den "Fußabdruck eines Engels", und versagt keinem der drei Brüder ihre Liebe. Was sie und Imre einander erzählen, werde, glauben die Liebenden, Wirklichkeit. Alle Hauptpersonen in "Blumenfresser" leben ihren Traum.

Ihm gehören auch Wurzelmama, Wurm und Blatt, die irrsinnige Struwwelmadonna, der todbringende Tulpenfisch sowie der 500 Jahre alte Grasmusikant an, der Tote zum Leben erwecken kann. Die Auftritte der Märchenfiguren sind Zwischenspiele in den zahlreichen Konflikten der Hauptpersonen untereinander sowie mit Revolutionären, Spitzeln und Bürgern. Imre hält etwa nach der Revolution einen Vortrag, der ihn in den Kerker bringt, obwohl er wahrscheinlich nur über Blumen auf den Schlachtfeldern der Revolution sprach.

Mehr lässt sich über den Romaninhalt kaum sagen, ohne sich in Aufzählungen zu verlieren. Blutig und liebevoll, von Heinrich Eisterer zupackend übersetzt, geht es zu. Darvasi bevorzugt das Extrem, um vom Nichterreichbaren, Unverfügbaren zu erzählen. Repräsentiert wird es durch Blumen und die fünf Hauptfiguren. Über sie heißt es am karnevalesken Romanende, als Szeged im Hochwasser versinkt: "Herr Schütz schrie, die Welt werde von denjenigen gerettet, die nicht mehr zu ihr gehören! Ihr Fehlen werde zu dem Fenster, in dem die Wahrheit sich zeigt!"

Tatsächlich sind die allegorischen Züge der Figuren stärker als ihre Individualität. Greifbar werden sie kaum. Darvasi erzählt kunstvoll und spannungsreich, wenn er den personalen Erzähler unvermittelt zugunsten des inneren Monologs und der erlebten Rede zurücktreten lässt. Doch was dann folgt, ist weniger individuell als stets extrem. Die Erzählweise ist überraschend, weniger das Erzählte. Trotz einiger überwältigender Passagen überzeugt "Blumenfresser" nicht.

Besprochen von Jörg Plath

László Darvasi: Blumenfresser
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer
Suhrkamp Verlag,Berlin 2013
860 Seiten, 28 Euro
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