"Wir waren zu idealistisch"

György Dalos im Gespräch mit Katrin Heise · 23.09.2013
Der ungarische Schriftsteller György Dalos hat den Intellektuellen im einst kommunistischen Osteuropa bei ihrem Kampf für Demokratie Blauäugigkeit bescheinigt. Statt der ersehnten Menschenrechte habe man nur die Marktwirtschaft bekommen, sagte er anlässlich seines 70. Geburtstages. So sei es seiner Generation gegangen wie einst Christoph Kolumbus, der Indien suchte, aber Amerika fand.
Katrin Heise: Der ungarische Autor György Dalos feiert heute seinen 70. Geburtstag. Vor der Sendung konnte ich ihm gratulieren, und ich habe ihn gefragt, ob er es nach wie vor als seine Aufgabe begreift, als Schriftsteller im Ausland lebend zu protestieren, was die Situation in seiner Heimat Ungarn angeht.

György Dalos: Protest ist eine der Formen, mit denen ein Schriftsteller auf die Wirklichkeit reagieren kann, und die andere Form ist, sie zu schildern, sie kritisch zu beobachten, was ich auch tue. Aber ich glaube nicht, dass ich heute mehr verändern könnte als vor 20 oder 30 Jahren.

Aber vor 20 oder 30 Jahren hatten wir noch das Gefühl, dass wir als Intellektuelle in einem kleinen Land in Mitteleuropa doch die moralische Kraft und Ausstrahlung haben, Grundlegendes zu verändern und verbessern. Heute ist das ein bisschen fraglicher geworden.

Heise: Liegt das an den Zuständen, an der Regierung in Ungarn, oder ist das eine ganz persönliche Entwicklung, die Sie durchlaufen haben, wo Sie sagen, man kann eigentlich als Einzelner oder als eine Gruppe, als eine Minderheit, wenig ändern?

Dalos: Es ist nicht einfach die Regierung oder nicht einfach die Politik, sondern Leute wie ich, die den größten Teil ihres Lebens in einer Diktatur erlebt haben und die dann plötzlich in einer freien Gesellschaft gelandet sind, die aber auch gleichzeitig einen sozialen und kulturellen Untergang in vieler Hinsicht bedeutete.

Also jetzt wirklich unabhängig davon, welche Typen, unangenehme Typen wir jedes vierte Jahr uns als Führer des Landes wählen, geht es auch darum, dass zu diesen Zeiten nicht nur die Freiheit größer geworden ist, sondern gewissermaßen ein Freifall der Gesellschaft oder ein Freifall der Kultur und der kulturellen Werte.

Heise: Sie beklagen vor allem den Hass, den hasserfüllten Ton, den Sie in Ungarn vernehmen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach, diese Entwicklung mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wende? Ist das dieser freie Fall?

Dalos: Der Hass, das ist ein Phänomen für sich. Weil dass es in einer Demokratie Parteien gibt, die einander im Wahlkampf besiegen wollen, das ist absolut natürlich für mich, aber dass sie einander vernichten wollen, das ist völlig neu, und das ist nicht einmal für die ungarische Tradition eindeutig.

"Dieses Land hat immer noch eine sehr hohe Kultur"
Heise: Sie leben in Berlin, Sie haben aber auch eine Wohnung in Budapest, sind dort auch häufig. Wie erleben Sie das dann, was lieben Sie auch an Ungarn. Wir haben ja so viel von so negativen Dingen gesprochen.

Dalos: Ich liebe also Ungarn, weil ich dort aufgewachsen bin, weil ich die ungarische Sprache als Arbeitsinstrument habe, und weil es gibt immer noch in Ungarn Sachen, die wirklich liebenswürdig und hoffnungswürdig sind. Dieses Land hat immer noch eine sehr hohe Kultur und auch einen Anspruch.

Und außerdem, ich glaube auch, wir sind nach wie vor das Land, das die Grenze öffnen ließ, und zwar nicht nur für die eigene Bevölkerung, sondern auch für die Bevölkerung der ehemaligen DDR. Und obwohl ich sehr skeptisch gegenüber Gefühlen wie Nationalstolz bin – das ist ein bisschen wie Blutdruck, manchmal zu hoch, manchmal zu niedrig, schwer instand zu halten –, aber es gibt Sachen, auf die man wirklich auch stolz sein kann.

Heise: Im Radiofeuilleton hören Sie den Schriftsteller György Dalos zu seinem heutigen 70. Geburtstag. Herr Dalos, Sie hatten im kommunistischen Ungarn Berufsverbot, waren Oppositioneller. Wenn Sie die Situation der Dissidenten damals und heute in Ungarn vergleichen, wie fällt der Vergleich aus?

Dalos: Ja, dieser Generation, der passierte etwas wie dem Christoph Kolumbus, wir suchten Indien und landeten in Amerika. Das heißt, die freie Marktwirtschaft gehörte nicht zu unserer Agenda. Es handelte sich um die Menschenrechte. Und wir dachten über einige Sachen nicht nach. Eine, das waren die sozialen Unkosten.

Die andere Frage, das war die nationale Frage, die in Ost-Mitteleuropa mit der Demokratie nicht einfach gelöst wurde, sondern auch Aggressionen, neue Aggressionen ausgelöst wurden, und das haben wir auch nicht gesehen, dass das kommt. Wir wollten zum Beispiel die Grenzen nicht verändern, wie das viele Nationalisten in Osteuropa wollen.

Wir wollten diese Grenzen eigentlich überflüssig machen, und wir waren zu idealistisch. Wir dachten über die Politik zu oft in moralischen und ästhetischen Begriffen. Und dann mussten wir noch natürlich einsehen - ich glaube, dass das fast für alle ehemaligen Dissidenten so war –, dass die Geschichte einen objektiven Gang hat und nicht immer das geschieht, was man will.

"Heute ist Opposition eine eher politische Kategorie"
Heise: Wenn Sie jetzt mit diesem Wissen Oppositioneller im heutigen Ungarn wären, wie würden Sie sich dann verhalten?

Dalos: Ja, heute ist Opposition eine eher politische Kategorie, viel weniger oder fast keinen moralischen Inhalts, aber die Art und Weise, wie ich zum Beispiel die heutigen Missstände kritisiere, ist eher moralisch als politisch.

Heise: Sie leben ja seit Jahrzehnten in Deutschland. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, würde ich jedenfalls sagen, beide Kulturen einander näher zu bringen. Wie weit sind wir im Interesse und im Verständnis, die Deutschen, die Ungarn?

Dalos: Da gibt es gute Traditionen. Und das ist auch die Tradition des 19. Jahrhunderts, wo in Ungarn vieles, besonders zuzeiten des Vormärz, ähnlich – also vor der Revolution 1848/49 – gemacht wurde. Da gibt es aber auch eine Tradition der späteren Zeiten, also 70er-, 80er-Jahre, wo viele ungarische Autoren, welche in Ungarn mehr oder weniger Probleme mit der Zensur hatten, doch in der Bundesrepublik viel veröffentlichen durften.

Und es gehört noch etwas hinzu: Die ungarische Literatur mit ihrem etwas liberaleren Geist und mit mehr Erzählmöglichkeiten war auch in der ehemaligen DDR sehr populär.

Heise: Das ist die Vergangenheit. Wie ist das jetzt, das Heute? Ist dieses Interesse, dieser Austausch so lebendig, wie Sie ihn sich wünschen?

Dalos: Ja, es gibt auf kulturellem Gebiet sehr gute - also seit 1988 gibt es in Budapest das Goethe-Institut, das zunächst, in dem ersten Jahr, noch Deutsches Kulturinstitut genannt wurde, weil man wollte nicht die DDR beleidigen, die Goethe als DDR-Bürger begriffen haben. Es gab in den 90er-Jahren über die Frankfurter Buchmesse eine erhöhte ungarische Präsenz, dann ist Ungarn auch auf der Leipziger Buchmesse präsent, und wir haben ein Kulturinstitut –

Heise: ... dessen Leiter Sie ja jahrelang waren ...

Dalos: ... dessen Leiter ich vier Jahre lang war. Also das ist eine gute Sache. Es gibt leider eine neue Art von Kontaktaufnahme zwischen den beiden Ländern, und das ist die massenhafte Ausreise von jungen Leuten auch nach Deutschland, mehrheitlich nach Deutschland oder auch Österreich, weil sie sich entweder auf dem ungarischen Arbeitsmarkt als überflüssig fühlen oder ansonsten Probleme mit ihrer Existenz, mit ihrem Dasein in Ungarn zu tun haben.

Gyula Horn (rechts) und sein oesterreichischer Amtskollege durchtrennen am 27. Juni 1989 im ungarischen Sopron den Stacheldraht am gemeinsamen Grenzzaun.
Historische Grenzöffnung: Gyula Horn (rechts) und sein österreichischer Amtskollege durchtrennen am 27. Juni 1989 im ungarischen Sopron den Stacheldraht.© picture alliance / dpa / BERNHARD J. HOLZNER
"Die Euphorie der Jahre 1988/89 ist natürlich vorbei"
Heise: Also ein Austausch, den Sie dann doch eher bedauern. Sie haben vorhin von Grenzen gesprochen, die Sie sich eigentlich vollkommen abgeschafft gewünscht haben. Wenn wie die mal jetzt so – wenn wir dafür mal Europa nehmen, das es ja gibt, immer größer gibt – in Ungarn noch stärker aber auch in Deutschland muss allerdings um diese Liebe von Europa oder zu Europa gerungen werden. Immer häufiger wird Europa ja eigentlich nur noch unter ökonomischen Aspekten diskutiert. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Dalos: Die Euphorie der Jahre 1988/89 ist natürlich vorbei. Damals dachten sehr viele meiner Landsleute ungefähr so: Am Samstag lassen wir die DDR-Bürger über unsere Westgrenze ziehen und am Montag sind wir in der EU. Und das Klopfen an der Tür der EU dauerte 14 Jahre.

Und diese 14 Jahre waren natürlich zu viel, und die Erwartungen an die EU waren teilweise von Anfang an illusorisch. Ich finde nach wie vor, dass diese Mitgliedschaft in der EU die einzige Perspektive für Ungarn ist, und was mir Sorge macht, dass teilweise in der Politik, aber auch in der Gesellschaft das wirkliche Interesse an den Werten der EU kleiner geworden ist. Das ist keine wirklich gute Entwicklung, aber das ist keine rein ungarische Sache.

Heise: Wenn Sie zum Geburtstag heute einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich wünschen, Herr Dalos?

Dalos: Also, ich möchte einfach, dass dieser Geburtstag ein Tag wäre wie jeder andere, und dass ich auch ohne runde oder nicht-runde Jahrestage die Freude am Leben irgendwie jeden Tag feiern kann.

Heise: Das wünsche ich Ihnen auch! Herzlichen Glückwunsch noch einmal, vielen Dank, dass Sie hier waren.

Dalos: Gerne!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema