Strukturwandel in Bochum

Die Ermöglicherstadt

08:45 Minuten
Bibliothek der Ruhr-Universität in Bochum
Studenten in der Bibliothek: Die Gründung der Ruhr-Uni war ein Segen für Bochum. © dpa / picture alliance / Bernd Thissen
Von Vivien Leue · 30.07.2019
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Bochum ist heute mit fast 60.000 Studenten eine Hochschul- und Wissensstadt. Das ehemalige Opel-Gelände ist ein Segen für die Uni, die dort neben ihren Standorten im Bochumer Süden und in der Innenstadt einen dritten Campus aufbauen will.
"Wir sind hier in Bochum-Laer ... "
Jürgen Schauer steht mitten auf einer riesigen Baustelle, vor einem langgestreckten Backsteingebäude: sechs Stockwerke hoch, 130 Meter lang. Das ehemalige Opel-Verwaltungsgebäude. Ein Wahrzeichen der Sechzigerjahre-Architektur – und denkmalgeschützt.
"Alles, was an Altbestand an Gebäuden da war, wird abgerissen, es gibt zwei Ausnahmen, das eine ist das hier, das ehemalige Verwaltungsgebäude ... "
Der Sprecher der "Perspektive Bochum 2022" – der Gesellschaft, die dieses Gelände aktuell managt und entwickelt – steht jetzt an einer langen Fensterfront im fünften Stock des Gebäudes. Von hier aus hat man einen guten Überblick über das 70 Hektar große Gelände, auf dem gut 50 Jahre lang Opel-Autos produziert wurden, die Typen Kadett oder Astra zum Beispiel. Mit dem Produktions-Aus Ende 2014 gingen die letzten 3.000 Jobs verloren – es waren einmal viele tausend mehr.
"Wir schauen jetzt auf DHL. DHL war unser erster Investor, der hier auf der Hauptfläche auch das erste Grundstück gekauft hat."

Modernste Sortier-Anlage Deutschlands

Bald sollen dort 700 Menschen arbeiten, in einer der modernsten Paketsortier-Anlagen Deutschlands. Das Gebäude steht, zurzeit wird die Technik eingebaut. Mehrere Monate wird das noch einmal dauern, sagt Schauer.
"Weil es sind sehr maschinelle, sehr High-Tech-Abläufe, um 50.000 Pakete in der Stunde zu sortieren."
Außerdem werden in das ehemalige Opel-Verwaltungsgebäude der Online-Händler Babymarkt.de und ein Teil der Ruhr-Universität Bochum einziehen. Ab dem nächsten Sommer könnte es damit wieder bis zu 1.600 Jobs auf dem Gelände geben – und das ist erst der Anfang.
Etwa zehn Autominuten von der Baustelle entfernt, mitten in der Bochumer Innenstadt, sitzt der Geschäftsführer der Entwicklungsgesellschaft "Bochum Perspektive 2022", Rolf Heyer, in seinem Büro.
"Das geht ziemlich schnell und auch schneller, als wir uns das selber vorgestellt haben."
Der Städteplaner erinnert sich noch gut an die Zeit vor fünf Jahren.
"Als nach Nokia auch Opel sagte: Ich mach zu, war das schon eine depressive Stimmung und es musste sowas wie Trauerarbeit auch von einer Stadtgesellschaft geleistet werden."
Heyer und sein Team haben es offensichtlich geschafft, die Stimmung zu wenden:
"Also von diesem Bedauern 'Da geht einer' hin zum: 'Oh das kann ja auch eine Chance sein, das kann ja auch Aufbruch sein.'"
In einem ersten Schritt wurde das Gebiet umbenannt – es heißt jetzt "Mark 51°7", in Anlehnung an die geografischen Koordinaten der Fläche.

Bochum ist Veränderung gewohnt

Vielleicht fällt es den Menschen in Bochum aber generell etwas leichter, mit solchen Umwälzungen umzugehen. Denn die Stadt ist Veränderung gewohnt.
"Das ist ein Gelände, das jetzt im vierten Strukturwandel ist. Das war mal landwirtschaftliche Nutzfläche, dann wurde es Gebiet einer Kleinzeche, der älteste Bergbau auf dem Gelände war von 1742, später ist dann die große Tiefbauzeche Dannebaum hinzugekommen."
1958 dann kam die erste große Kohlekrise.
"Zu diesem Zeitpunkt war Bochum die größte Bergbaustadt in Europa mit 60.000 Beschäftigten im Bergbau."
Da war die Welt noch in Ordnung: Das Opel-Werk in Bochum 1968.
Da war die Welt noch in Ordnung: Das Opel-Werk in Bochum 1968.© dpa/picture alliance/Klaus Rose
1973 machte in der Ruhrgebietsmetropole die letzte Zeche dicht – und Bochum entwickelte sich weiter. Nicht nur wurden jetzt Autos in der Stadt produziert, Anfang der 60er-Jahre gründete sich hier auch die Ruhr-Universität.
"Heute ist Bochum eine Hochschul- und Wissensstadt mit fast 60.000 Studenten. Das beschreibt glaube ich über 60 Jahre den Strukturwandel am anschaulichsten."
Städteplaner Heyer sagt das nicht ohne Stolz – er selbst hat an der Ruhr Uni studiert, promoviert und den ständigen Wandel in der Stadt miterlebt. Heute sitzen renommierte Unternehmen der Gesundheitswirtschaft oder der Datensicherheit in Bochum – und bald auch das Max-Planck-Institut für Cybersicherheit und den Schutz der Privatsphäre. Es wird wie die Ruhr-Uni selbst auf das Gelände "Mark 51°7" kommen. Der Sprecher der Ruhr-Uni, Jens Wylkop, freut sich über künftige Synergien:
"Da tut sich eine ganze Menge und wir spüren hier deutlich, dass gerade in der IT-Sicherheit ein echter Hotspot in Bochum entsteht. Wir haben den großen starken Forschungsschwerpunkt an der Uni ja jetzt schon seit mehreren Jahren."

Ein Segen für die Uni

Das ehemalige Opel-Gelände sei ein echter Segen für die Uni, die dort neben ihren Standorten im Bochumer Süden und in der Innenstadt einen dritten Campus aufbauen will.
"Wir freuen uns riesig darauf, klar. Das ist für uns wirklich eine gute Möglichkeit, hier gezielt noch weiter den Standort Bochum zu entwickeln."
Enthusiasmus hört man aktuell von vielen Menschen, die mit dem ehemaligen Opel-Gelände zu tun haben. Von Norbert Hermanns zum Beispiel, dem Geschäftsführer der Landmarken AG, einem Unternehmen, das sich auf Büro- und Immobilienprojekte spezialisiert hat:
"Man blickt zunehmend mit Stolz auch im Ruhrgebiet selber auf sich. Und sagt: Mensch, wenn wir wirklich wollen, dann können wir auch total was bewegen und guck mal, was hier überall passiert."
Die Landmarken AG hat das ehemalige Opel-Verwaltungsgebäude und weitere Grundstücke auf dem Gelände gekauft, um dort vor allem Büro- und Gewerbeflächen zu vermieten. Bochum ist für Landmarken-Chef Hermanns ein besonderer Standort.
"Es ist tatsächlich erstaunlich, was da passiert. Also das Ruhrgebiet ist sich noch nicht selbst genug, sondern es will was in Bewegung setzen, es ist nicht so satt wie andere Regionen."

Arbeitslosigkeit fast doppelt so hoch wie im Bundesschnitt

Natürlich gibt es Herausforderungen. Der ständige Strukturwandel ist nicht spurlos an Bochum vorüber gegangen. Die Arbeitslosigkeit liegt mit rund neun Prozent fast doppelt so hoch wie der Bundesschnitt. Aber die Stadt lässt sich nicht unterkriegen.
"Man hat eine hohe Identität der Menschen und der Unternehmen mit dem Ruhrgebiet und man packt die Dinge an."
Dieses Lob hört Städteplaner Rolf Heyer in letzter Zeit häufiger von Kunden und Investoren.
"Diese Aufbruchsstimmung wird jetzt durchaus auch bei der Industrie, beim Gewerbe wahrgenommen", sagt er.
"Dazu gehört auch, dass die Bauanträge zügig bearbeitet werden, wenn sie sie dann stellen. Die Stadtverwaltung insgesamt ist so, dass sie sagt: Wir sind eine Ermöglicherstadt."
Heyer sieht in Bochum noch viel Potenzial und er ist froh, dass er mit dem ehemaligen Opel-Gelände dazu beitragen kann, dieses Potenzial – zukunftsgerecht – zu entwickeln.
"Wir werden die 70 Hektar, die wir auf "Mark 51°7" haben, auch nicht wieder zu 97 Prozent versiegeln. Fast 40 Prozent der Fläche werden Grünfläche werden. Aber es wird natürlich auch darum gehen, dass sie bestimmte Infrastrukturen auf dem Gelände haben. Das reicht vom Fitnessstudio zum Bolzplatz, dass sie eine Betriebskindertagesstätte haben, dass es auch ein Hotel geben wird."

"Strukturwandel passiert jetzt"

Ganz in der Nähe soll außerdem ein neues Wohnviertel entstehen, für zwei- bis zweieinhalbtausend Menschen. Das Aus von Opel in Bochum – es hat für die Menschen der Ruhrgebietsstadt offenbar viele neue Möglichkeiten eröffnet. So wird das ehemalige Produktionsgelände, das jahrzehntelang ein geschlossenes Betriebsgelände war, bald öffentlich zugänglich sein, mit kleinen Parks, Spielplätzen, Festivitäten.
"Wenn sie jetzt da nach unten gucken, da sehen sie ein kleines Zelt ... "
Sprecher Jürgen Schauer zeigt aus dem fünften Stock des entkernten ehemaligen Opel-Verwaltungsgebäudes auf einen weißen Pavillon.
"Da geben wir immer wieder Informationen zum Gelände."
Dabei gehe es nicht nur um Zahlen und Fakten, sagt Schauer, sondern oft auch um das große Ganze – den Strukturwandel. Denn er passiere jetzt, hier, mit diesen Bauarbeiten im und rund um das Gebäude.
"Man muss es den Leuten erzählen, fühlbar, begreifbar machen, dass hier das stattfindet, tagtäglich."
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