Internetschule in Bochum

Unterricht per Skype

06:39 Minuten
Ein Junge an seinem Schreibtisch vor seinem Computer - von hinten aufgenommen.
200 Kinder aus dem ganzen Bundesgebiet besuchen zurzeit die Webschule. Die Zahl ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen und es gibt Wartelisten © Claudia
Von Vivien Leue · 03.06.2019
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Staatlich ist die Internetschule in Bochum nicht anerkannt. Nur Kinder, die dauerhaft von der Schulpflicht befreit sind, dürfen hier lernen. Dabei bietet der individualisierte Unterricht für Schüler mit Förderbedarf wie den hochsensiblen Ben große Chancen.
"Hallo, wie geht es Dir heute?"
"Gut."
Ben sitzt in seinem Zimmer in Mettmann, nördlich von Düsseldorf, an seinem Schreibtisch. Vor ihm steht ein aufgeklappter Laptop. Es ist Viertel nach acht Uhr am Morgen.
"Du hast gestern noch die Aufgabe 9c gemacht..."
Auf dem Bildschirm blättert seine Lehrerin in einem Schulbuch. Ben unterhält sich per Skype mit ihr.
"Dann gucken wir uns jetzt Aufgabe 10 an."
"Ja."
Der 13-Jährige hat gerade Mathe-Unterricht. Anstatt wie andere Kinder dafür zur Schule zu fahren, klappt er morgens seinen Laptop auf. Denn Ben ist Schüler der deutschlandweit einzigen Internetschule.
"Um Viertel nach acht telefonieren wir einmal, dann arbeite ich bis 9 Uhr 30. Dann schreibe ich, ob ich Fragen habe. Dann bis 10 Uhr 45 arbeite ich wieder. Dann reden wir nochmal."
Ein Lehrer an einem Whiteboard in einen aufgeklappten Computer sprechend.
Individuell und ein nahes Schüler-Lehrer-Verhältnis: So läuft der Unterricht in der Internetschule in Bochum.© Stefan Schejok
Als Asperger-Autist sei ein "normaler" Schulbesuch für Ben kaum möglich, erzählt seine Mutter Claudia. "Ben hat eine Hochsensibilität, was das Gehör angeht, und für ihn ist das nicht machbar in einer Klasse mit so vielen Kindern zu sitzen, weil er alles mitkriegt, vom fallenden Stift, bis zum Schreiben auf der Tafel, der Rasenmäher draußen, die Vögel… Das ist fast überhaupt nicht auszuhalten."
Die relativ behütete Grundschulzeit hat der 13-Jährige noch ganz gut geschafft. "Und dann ist er auf die Gesamtschule gekommen, und von heute auf morgen hat er körperlich reagiert, er ist hyperventiliert. Da ging gar nichts mehr. Das war eine ganz, ganz schlimme Zeit."
Förderschulen speziell für Asperger-Autisten gibt es deutschlandweit nur in wenigen Regionen. Die Familie schickte Ben deshalb auf eine Privatschule mit kleineren Klassen, nur 15 Schüler. Aber auch das funktionierte nicht. "Das war dann echt ein langer, langer Leidensweg."

Schulpflicht ist in Deutschland ein hohes Gut

Denn die Schulpflicht ist in Deutschland ein hohes Gut – und die Internetschule staatlich nicht anerkannt. Das heißt: Nur Kinder, die dauerhaft von der Schulpflicht befreit sind, dürfen die Online-Schule besuchen. Das sind zum Beispiel Kinder, die psychische Traumata erlebt haben, im Krankenhaus liegen oder aus anderen Gründen wirklich nicht in der Lage sind, in die Schule zu gehen, erzählt Schulleiterin Sarah Lichtenberger in Bochum. Dort sitzt die Internetschule.
"Alle anderen sollen sehr wohl da hingehen und Kaugummi untern Stuhl kleben und sich in die schönen Jungs aus der siebten Klasse verlieben. Das ist für die Seele unheimlich wichtig, so groß zu werden. Wenn das aber krank macht, und wenn das nicht machbar ist, können wir eine Alternative sein."
200 Kinder aus dem ganzen Bundesgebiet besuchen zurzeit die Webschule. Die Zahl ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Es gibt Wartelisten.
"Letztendlich muss ich sagen, dass die Inklusion zwar eine sehr schöne Idee ist, aber sie schlecht umgesetzt wird und man für die bestimmte Klientel, die wir bedienen, besonderes Personal braucht, besonderes Fingerspitzengefühl."
Lichtenberger glaubt, dass sie auch deshalb seit Jahren steigende Anmeldezahlen hat. Trotz der räumlichen Entfernung schaffen ihre Mitarbeiter, was Lehrer in vielen staatlichen Schulen häufig nicht mehr schaffen: ein enges Verhältnis zum Kind aufzubauen.

Inklusion als oberstes Ziel in NRW vorerst gestoppt

Ortswechsel. An der Gesamtschule Bockmühle in Essen wird Inklusion seit vielen Jahren gelebt. Schulleiterin Julia Gajewski ist eigentlich ein Fan des gemeinsamen Lernens. "Gesamtschulen – von der Idee her ist es das Schulsystem, was auf Durchlässigkeit beruht."
Ihrer Erfahrung nach akzeptieren die Regelschüler einen Schüler mit Förderbedarf relativ schnell. "Die Schüler sind schon so, dass sie sagen: Wir sind jetzt eine Gruppe, und der gehört jetzt dazu. Der braucht Hilfe, und der kriegt die Hilfe. Und das Lernen der Akzeptanz, das findet dann tatsächlich in so einer Klasse statt."
Allerdings müsse dann alles optimal laufen. In der Realität stehen Gajewski und viele ihrer Kolleginnen und Kollegen aber häufig katastrophalen Rahmenbedingungen gegenüber. "Das Problem ist, wenn zu viele verhaltensauffällige Kinder in einer Klasse sind, um die man sich kümmern muss, kann man sich um die Gesamtgruppe nicht kümmern. Dann gewinnt das die Überhand."
Lange Jahre galt in Nordrhein-Westfalen die Inklusion als oberstes Ziel. Unter der rot-grünen Landesregierung mussten viele Förderschulen schließen. Die schwarz-gelbe Regierung hat das nach ihrem Amtsantritt 2017 erst einmal gestoppt und mittlerweile eine Neuausrichtung bis 2023 angekündigt.
Dennoch: In einem Schulsystem, in dem die Klassen eher mit 30 als mit 20 Kindern voll besetzt sind und immer noch häufig Lehrer fehlen, gehen Kinder, die eine besondere Betreuung bräuchten, unter.
Teamsitzung in der sogenannten Web-Individualschule in Bochum
Teamsitzung in der Internetschule – gut 800 Euro kostet der 1-zu-1-Unterricht hier pro Kind und Monat.© Stefan Schejok
Vielleicht fußt der Erfolg der Bochumer Web-Individualschule gerade auf diesen Defiziten des regulären Schulsystems. Viermal schon musste die Webschule umziehen, weil sie sich vergrößert hat, erzählt Schulleiterin Sarah Lichtenberger.
"Es sind unsagbar viele Kinder und Jugendliche in Gänze unbeschult zuhause. Wir haben mindestens zwei- bis dreihundert Anfragen von unbeschulten Kindern, die aktuell im Kampf mit den Ämtern stehen, um eine Kostenzusage zu bekommen."
Gut 800 Euro kostet der 1-zu-1-Unterricht der Internetschule pro Kind und Monat. In den meisten Fällen wird die Gebühr von den Jugendämtern übernommen, auch bei Ben. Zum Vergleich: Ein Integrationshelfer, der Kinder mit Förderbedarf in einer Schulklasse unterstützt, kostet etwa das Dreifache pro Monat.
Zurück in Mettmann.
Ben ist mit seiner Mathe-Aufgabe fertig.
"… 45, dann ist er ein spitzer Winkel."
"Sehr gut, klasse. Das ging ja jetzt fix."
Der 13-Jährige wirkt zufrieden. Er mag seine Lehrerin.
"Man ist dem Lehrer auch viel näher. Es ist ja viel intensiver als normal."
Er hofft, mit Hilfe der Web-Schule bis zum Abitur zu kommen. Und auch seine Mutter Claudia hofft, dass das möglich ist. Denn die zuständigen Ämter sähen Ben lieber in einer Förderschule.
"Man will ihn massiv ins staatliche Schulsystem eingliedern. Und da beginnen unsere Probleme, weil leider das staatliche Schulsystem keine Schulen mit kleinen Klassen … die gibt es einfach nicht."
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