Stresshormone

Warum Orangensaft gefährlich sein kann

Eine Frau presst eine Orange aus, im Vordergrund ein Glas mit Orangensaft.
Eine Frau presst eine Orange aus. © picture alliance / dpa / Marc Müller
Von Udo Pollmer |
Vermeintlich "gesunde" Bestandteile etwa von Orangensaft oder Zwiebeln können schaden, warnt der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer. Denn Enzyme müssten sie im Körper wieder abbauen - wie Stresshormone auch. So könnten Letztere gefährlich ansteigen.
Was haben Orangensaft, Rotwein und Zwiebelsuppe gemeinsam? Sie können die Gesundheit schädigen. Bei Dauerkonsum sollen Kopfweh, Diabetes und sogar Herzinfarkt drin sein. Diese Aussage klingt noch absonderlicher als kürzlich die Krebs-Warnung vor rotem Fleisch. Doch diesmal ist an der Geschichte etwas dran, wenn auch anders als gedacht.
Es ist nicht der Gehalt an Zucker, Alkohol oder Salz, der zur Falle wird. Die Gefahr geht von den vermeintlich "gesunden" Bestandteilen aus, wie vom viel besungenen Resveratrol im Rotwein, das so herzgesund sein soll, oder vom Hesperitin im Orangensaft, das laut Ernährungsszene die Nerven schützt oder vom Quercetin aus der Zwiebel, das angeblich unser Immunsystem fit hält. Und es gibt viele weitere sekundäre Pflanzenstoffe in Gemüse, Obst und Gewürzen, für die das Gleiche zutrifft.
Doch ob jemand von Rotwein, Orangen oder Zwiebeln einen Nutzen hat oder Schaden nimmt, hängt von seiner individuellen Entgiftungskapazität ab. All die vermeintlich wertvollen Stoffe muss der Körper ja auch wieder ausscheiden, eine Aufgabe, die für ihn körpereigene Enzyme, sogenannte Sulfotransferasen, erledigen.
Erklärung für vermehrte Herzinfarkte an Feiertagen
Die eigentliche Aufgabe der Sulfotransferasen ist aber nicht die Entgiftung von Zitrussäften, Gemüsesuppen oder Kräutertees, sondern die Bekämpfung von Stress. Wenn wir Gefahren ausgesetzt sind, sorgen Stresshormone dafür, dass wir schneller und effektiver reagieren können. Ist die Gefahr vorbei, ist es notwendig, die Hormonpegel wieder zu senken, damit Entspannung eintritt. Dauerstress ist recht gefährlich. Er verursacht bekanntermaßen Gewichtszunahme, Herzinfarkt und Diabetes.
Bei Personen mit einer knappen Ausstattung mit Sulfotransferasen können die Pflanzenstoffe fatale Folgen haben, denn sie "verbrauchen" die Enzyme, bevor diese sich dem Stressabbau widmen können. So steigt das körpereigene Dopamin – daraus bildet der Körper das Stresshormon Adrenalin – bei entsprechender Veranlagung bereits nach zwei Gläschen Rotwein bis auf das 50fache des Ausgangswertes. Die spürbare Folge ist für die Betroffenen eine heftige Migräne. Das ist nebenbei bemerkt auch der Grund, warum manche Menschen unter Stress oder wenn sie sich geärgert haben, keinen Rotwein oder keine Schokolade vertragen. Anderen dagegen helfen beide Stress und Ärger zu dämpfen.
Das Modell erklärt auch, warum es gerade an Feiertagen vermehrt zum Herzinfarkt kommt. Stress gibt es bei den Feier-Vorbereitungen genug. Der Hormonpegel ist oben. Wenn dann "besondere" Speisen – ein guter Rotwein oder leckerer Christstollen mit reichlich Sulfotransferasen-Killern konsumiert werden, bleiben bei empfindlichen Personen die Pegel oben und diese steigen mit der Aufregung am Festtag noch weiter - bis zum Infarkt.
Unterschiedliche Enzymausstattung aus Evolution
Der Grund, warum nicht alle Menschen reichlich mit Sulfotransferasen gesegnet sind, liegt in unserer Evolution: Hirten und Nomaden standen kein Gemüse, Obst oder Getreide zur Verfügung. Sie brauchten kaum Entgiftungsenzyme, denn sie aßen fast nur Fleisch und Fett. Nicht zufällig erkranken heute überdurchschnittlich viele Nachfahren der Eskimo, aber auch der nordamerikanischen Indianer sowie der Afroamerikaner durch eine Kost, die für ihre Veranlagung relativ viel Brot, Gemüse- und Obstprodukte enthält, an Diabetes.
Besser mit pflanzlicher Kost kommen die Nachfahren von Jäger- und Sammlervölkern zurecht – sie aßen neben ihrer Jagdbeute auch allerlei Pflanzliches. Ihnen fehlte aber meist noch die Anpassung an stärkereiche Kost wie Brot oder Pasta. Diese Befähigung wurde erst infolge der Sesshaftwerdung von den Ackerbau-Völkern entwickelt, die, um satt zu werden, stärkereiche Getreide und Knollen anbauten.
Die Menschheit kann alles essen. Doch der einzelne Mensch tut gut daran, sich seiner Begabungen, Neigungen und Grenzen bewusst zu sein. Das gilt nicht nur für sportliche oder intellektuelle Leistungen sondern gleichermaßen auch für seine Verdauungskünste. Die individuelle Bekömmlichkeit der Speisen gibt dem Menschen den Rahmen seiner Ernährung vor. Mahlzeit!
Literatur:
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