Strenge Hackordnung bei Mensch und Tier
Blösch, Leitkuh auf dem Schweizer Kuchelhof, ist die markante Heldin des Romans. Der spielt in den sechziger Jahren, der großen Umbruchszeit in der Landwirtschaft. Das Leitmotiv des Werkes ist der Kampf - unter Menschen und unter Tieren.
Wenn Themen plötzlich drängend werden, sucht die Literaturkritik oft angestrengt nach dem aktuellen Roman, der sich der Sache annehmen möchte. Aber der ist so schnell nicht zu erwarten – oder längst geschrieben. So kommt der große Roman zum Thema der Tierschlachtung und des unanständigen Essens, das in diesem Jahr selbst eingefleischte Wurstesser umtreibt, aus dem Jahr 1983: Beat Sterchis "Blösch", ein wenig bekanntes Meisterwerk der deutschsprachigen Literatur, das jetzt wiederveröffentlicht wurde.
Wie bei großen Romanen üblich, nennt der Titel die Hauptfigur. Die Heldin ist markant, schön und breitschädelig: Blösch, die Leitkuh auf dem Schweizer Knuchelhof, ein mächtiges, selbstbewusstes Tier. Die menschliche Zentralfigur hört auf den Namen Ambrosio. Auf dem Hof wird ein Melker mit Fingerspitzengefühl gebraucht: Es kommt einer von weit her, aus Spanien, ein "Fremdarbeiter" im "wohlhabenden Land".
Die sechziger Jahre, in denen der Roman spielt, waren die große Umbruchszeit in der Landwirtschaft. Knuchel aber ist ein störrischer Bauer, der von modernen Melkmaschinen und künstlicher Besamung nichts wissen will. Er habe keine "Großvieheinheiten" im Stall, sondern Kühe, jede ein Individuum, das besonderen Zuspruch bei der Morgenmelkung verlangt. Aber Knuchel steht auf verlorenem Posten.
Der Migrant Ambrosio ist nicht willkommen in Innerwald. Knuchel, der zu ihm hält, muss sich ständig aufziehen lassen wegen "seines" Spaniers, bis er aufgibt und ihm Arbeit im städtischen Schlachthof verschafft. So wird die Dorfidylle, die keine mehr ist und wohl nie eine war, hart kontrastiert: Jedes zweite Kapitel spielt im Schlachthof. Unaufhörlich sackt das Vieh unter den Betäubungsschüssen zuckend zu Boden, unaufhörlich wird gestochen und getötet, werden Körper gehäutet, aufgeschnitten und ausgenommen. Sterchi beschwört das Töten und Schlachten wie ein Ritual, das erst durch Monomanie und Monotonie zur eigentlichen Wirkung kommt.
Kampf ist ein Leitmotiv: Gotthelf, dem "tüchtigen Zuchtgenossenschaftsstier", macht die Konkurrenz des schmachtlockigen Pestalozzi zu schaffen; unter den Kühen gibt es permanente Rangeleien um die Herdenhierarchie, unter den Bauern Missgunst im Wettbewerb. Wer schafft den Anschluss an die moderne Landwirtschaft, wer muss aufgeben? Auch im Schlachthof herrscht strenge Hackordnung. Die Feindseligkeiten unter den Mitarbeitern entladen sich am Ende in einem Aufstand. Die Wut bricht durch, und mit ihr das Archaische, Kultische.
Beat Sterchi, Jahrgang 1949, hat – neben Hörspielen und Kurzgeschichten – nur diesen einen Roman geschrieben, dessen beschreibungsmächtige, unerhört sinnliche Sprache in den Bann zieht. "Blösch" ist eine große Passionsgeschichte. Am Ende wird Ambrosio in der geschundenen, ausgemergelten, zur Freibankschlachtung angelieferten Blösch sein kreatürliches Spiegelbild erkennen. Auch der Leser sieht nach diesem Roman die Kuh auf der Weide und das Fleisch auf dem Teller mit anderen Augen.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Beat Sterchi: Blösch
Diogenes Verlag, Zürich 2011
436 Seiten, 12,90 Euro
Wie bei großen Romanen üblich, nennt der Titel die Hauptfigur. Die Heldin ist markant, schön und breitschädelig: Blösch, die Leitkuh auf dem Schweizer Knuchelhof, ein mächtiges, selbstbewusstes Tier. Die menschliche Zentralfigur hört auf den Namen Ambrosio. Auf dem Hof wird ein Melker mit Fingerspitzengefühl gebraucht: Es kommt einer von weit her, aus Spanien, ein "Fremdarbeiter" im "wohlhabenden Land".
Die sechziger Jahre, in denen der Roman spielt, waren die große Umbruchszeit in der Landwirtschaft. Knuchel aber ist ein störrischer Bauer, der von modernen Melkmaschinen und künstlicher Besamung nichts wissen will. Er habe keine "Großvieheinheiten" im Stall, sondern Kühe, jede ein Individuum, das besonderen Zuspruch bei der Morgenmelkung verlangt. Aber Knuchel steht auf verlorenem Posten.
Der Migrant Ambrosio ist nicht willkommen in Innerwald. Knuchel, der zu ihm hält, muss sich ständig aufziehen lassen wegen "seines" Spaniers, bis er aufgibt und ihm Arbeit im städtischen Schlachthof verschafft. So wird die Dorfidylle, die keine mehr ist und wohl nie eine war, hart kontrastiert: Jedes zweite Kapitel spielt im Schlachthof. Unaufhörlich sackt das Vieh unter den Betäubungsschüssen zuckend zu Boden, unaufhörlich wird gestochen und getötet, werden Körper gehäutet, aufgeschnitten und ausgenommen. Sterchi beschwört das Töten und Schlachten wie ein Ritual, das erst durch Monomanie und Monotonie zur eigentlichen Wirkung kommt.
Kampf ist ein Leitmotiv: Gotthelf, dem "tüchtigen Zuchtgenossenschaftsstier", macht die Konkurrenz des schmachtlockigen Pestalozzi zu schaffen; unter den Kühen gibt es permanente Rangeleien um die Herdenhierarchie, unter den Bauern Missgunst im Wettbewerb. Wer schafft den Anschluss an die moderne Landwirtschaft, wer muss aufgeben? Auch im Schlachthof herrscht strenge Hackordnung. Die Feindseligkeiten unter den Mitarbeitern entladen sich am Ende in einem Aufstand. Die Wut bricht durch, und mit ihr das Archaische, Kultische.
Beat Sterchi, Jahrgang 1949, hat – neben Hörspielen und Kurzgeschichten – nur diesen einen Roman geschrieben, dessen beschreibungsmächtige, unerhört sinnliche Sprache in den Bann zieht. "Blösch" ist eine große Passionsgeschichte. Am Ende wird Ambrosio in der geschundenen, ausgemergelten, zur Freibankschlachtung angelieferten Blösch sein kreatürliches Spiegelbild erkennen. Auch der Leser sieht nach diesem Roman die Kuh auf der Weide und das Fleisch auf dem Teller mit anderen Augen.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Beat Sterchi: Blösch
Diogenes Verlag, Zürich 2011
436 Seiten, 12,90 Euro