Strafe muss sein

Autor und Performance-Künstler Robin Detje diagnostiziert besorgt: Wir leben in einer Gesellschaft, die voller Genuss anderen Menschen - und vor allem Minderheiten - die Grenzen aufzeigt. Aber warum? Ein paar Hinweise hat Robin Detje in längst vergangenen Jahren gefunden.
Mein Vater war ein schwieriger Mensch. Er hat ein seltsames Recht für sich in Anspruch genommen: das Recht, uns Kindern jederzeit zu verbieten, Kinder zu sein. Also Wünsche zu haben, Impulsen zu folgen, neugierig zu sein, Ansprüche zu stellen, kurz: zu leben.
Durchgesetzt hat er sein Recht mit unkontrollierbaren Wutausbrüchen. Alles war gut, bis wir eine unsichtbare Grenze überschritten. Dann war alles vorbei und er explodierte. Und an seiner Explosion waren wir selber schuld. Wir hätten ihn nicht reizen dürfen! Jetzt konnten wir sehen, was wir davon hatten. Strafe muss sein!
Damals haben wir nie verstanden, warum er sich gegen uns gewehrt hat wie ein in die Ecke gedrängtes Tier. Aber für meinen Vater muss dieser Moment der Machtergreifung unendlich erleichternd gewesen sein. Endlich konnte er den Ausnahmezustand erklären und durfte Alleinherrscher sein. Endlich klare Verhältnisse, klare Grenzen!
Aus seiner Sicht waren wir eine Gefahr für seine Ordnung. Wenn er uns zu viel durchgehen ließ, wo sollte das enden? Wenn er unsere Wünsche erfüllte, dann würde das nie wieder aufhören! Dann würden wir ihn mit einer Flut von Wünschen überschwemmen und ihn ertränken.
Rätselhafter Rückfall in den Patriotismus
Was wir für ihn nicht waren, war ein Gegenstand liebevoller Neugier. Waren Wesen, an deren Nähe man sich freuen konnte, die einen überraschen und von denen man vielleicht sogar etwas lernen konnte. Ich kann mir viele Gründe vorstellen, warum mein Vater nur im Wutausbruch, nur im Strafen Vater sein konnte. Dazu gehören Hitler und die Hitlerjugend, Kriegstraumata und sein Vater, der ihn mit dem Ledergürtel verprügelt hat.
Das ist alles lange, lange her. Aber es kommt mir wie heute vor. Wenn ich Deutschland heute reden höre, dann höre ich meinen Vater. Wir erleiden einen rätselhaften Rückfall in den Paternalismus. Unsere Gesellschaft scheint besessen zu sein von dem Zwang, die Ansprüche anderer abzuwehren und sie dabei zu infantilisieren. Die Schwulen wollen heiraten dürfen? Wenn das einreißt! Transmenschen wollen neue Toilettenschilder? Da lassen wir die Bäume mal nicht in den Himmel wachsen. Die Griechen? Die lassen wir verrecken, das haben sie sich selbst zuzuschreiben. Afrodeutsche wollen in Kinderbüchern nicht mehr das N-Wort lesen? Wenn wir da nachgeben, schreiben sie bald alles um. Die Flüchtlinge? Denen geben wir kein Geld mehr, nur noch Knäckebrot, da können sie mal sehen, was sie vom Flüchten haben!
Land mit ekelhaftem Hang zum bürokratischen Sadismus
Strafen macht uns offenbar Spaß. So lange wir strafen können, in starrer Verweigerungshaltung, fühlen wir uns sicher. Da sitzen wir in unserer Trutzburg und bügeln alle ab, die sich an der Zugbrücke drängeln, mit ihrer Neugier, ihren Wünschen und Impulsen, ihren Hoffnungen und Ansprüchen, ihren Verletzungen und Enttäuschungen, ihrem Menschsein. Diese unartigen Kinder! Sie werden schon sehen, was sie davon haben – Mensch sein zu wollen bei uns! Uns zur Menschlichkeit zwingen zu wollen, zu Wärme und Mitgefühl!
Und auf keinen Fall dürfen wir uns zur Neugier auf diese Menschen und ihre Bedürfnisse verführen lassen. Auf keinen Fall dürfen wir sie als Bereicherung wahrnehmen – schon dieses Wort gilt mittlerweile als Polemik. Auf keinen Fall dürfen wir die Unruhe, die sie bringen, als belebend empfinden. Das alles gehört sofort und endgültig abgewürgt.
Mein Vater hatte die Größe, vor seinen eigenen Ausbrüchen, vor seiner Straflust zu erschrecken. Das hat uns wenigstens den Ledergürtel erspart. Diese Größe vermisse ich bei uns. Wir sind ein wirklich kleinliches Land mit einem ekelhaften Hang zum bürokratischen Sadismus. Und kein Hitler hat uns Nachgeborene gequält, kein Krieg hat uns traumatisiert. Wir haben uns unsere engherzige Pedanterie und unsere Kälte ganz allein selbst zuzuschreiben.
Robin DetjeJahrgang 1964, lebt als Autor, Übersetzer und Performancekünstler in Berlin. Er ist Träger des Übersetzerpreises der Leipziger Buchmesse 2014 und Teil der Künstlergruppe bösediva (www.boesediva.de). Der Autor auf Twitter: @robindetje.

Autor und Künstler Robin Detje© privat