Strategien für die Zukunft

Warum Angst kein guter Ratgeber ist

04:36 Minuten
Eine Illustration zeigt, wie ein wilder Löwe einen verängstigten Geschäftsmann jagt.
Angst vor wilden Tieren? Die Gefahrenlage habe sich geändert, so Martin Tschechne. © imago images / Ikon Images / Jens Magnusson
Ein Einwurf von Martin Tschechne · 16.10.2019
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Jederzeit Gefahren und Bedrohungen wahrzunehmen: Darauf wurden die Menschen von der Evolution programmiert, um zu überleben, meint der Publizist Martin Tschechne. Doch mit ständiger Aufgeregtheit ließen sich wichtige Zukunftsfragen nicht lösen.
Mal angenommen, ein sehr früher Vorfahr von uns hätte sich selig verzückt in die Betrachtung des Urwaldes versenkt – dabei aber den Säbelzahntiger übersehen, der sich in dem wundervoll üppigen Grün verbarg: Wir wären heute nicht hier. Und wie sähe die Welt wohl aus, so ganz ohne den Menschen?

Die Sprungbereiten überleben

Na, es ist noch mal gutgegangen. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass die Hellhörigen und die Sprungbereiten überleben. Romantiker und Ignoranten enden als Tigerfrühstück. Und weil es in freier Wildbahn immer um Bruchteile von Sekunden geht, um einen Windhauch, einen flüchtigen Schatten – steht das alles noch heute so in unserem genetischen Programm.
Wir reagieren hochsensibel auf jedes Knacken im Unterholz, sind aber weitgehend blind und taub gegenüber der Kontinentalverschiebung, dem eigenen Älterwerden oder auch dem Klimawandel.
Zumindest waren wir es – bis der Schwede Hans Rosling seine Leser auf die zu ständiger Panik bereite Disposition ihrer Wahrnehmung aufmerksam machte. "Factfulness" hieß sein Buch, frei zu übersetzen mit "Achtet auch mal auf die Fakten", und vor kaum mehr als einem Jahr stand es ganz oben auf den Bestsellerlisten.

Für Alarmismus empfängliche Kreaturen

Seine Botschaft, knapp zusammengefasst: Wir alle sind gehetzte Kreaturen; wir neigen zu Alarmismus und Überdramatisierung, leben in dauernder Furcht vor dem Untergang in jeder nur denkbaren Form – erstens, weil unser Gehirn nun mal so programmiert wurde.
Und zweitens, weil die Verführer in der Politik, sensationsgeile Medien und die gesamte Versicherungsbranche genau diese Schwäche ausnutzen: Halte die Leute in Angst, und du kannst sie kneten wie Wachs!
Rosling durchschaute sie alle. Rechnete ihnen vor, dass der Hunger auf der Welt sich in den letzten 20 Jahren halbiert habe, dass viel mehr Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, eine höhere Lebenserwartung, dass sie lesen und schreiben und demokratisch wählen können. Und verspottete die Schwarzseher noch dazu, dass sie in der Einschätzung von Gefahren und Chancen schlechter abschnitten als ein Käfig voller Schimpansen. Seine Botschaft: Eure Ängste in Ehren, aber die Tatsachen sprechen oft eine andere Sprache.
Der Autor starb, bevor sein Buch ein Welterfolg wurde. Sonst hätte er wohl den großen Marsch durch die Talkshows gemacht, hätte vor der UNO gesprochen und die Mächtigen der Welt flächendeckend an ihre Pflicht erinnert.

Haben Schweden den klareren Zukunftsblick?

Das tat und tut seither Greta Thunberg, die ebenfalls aus Schweden stammt, worüber nachzudenken sich lohnen könnte: Haben Schweden etwa einen klareren Blick auf die Zukunft? Werden sie im Rest der Welt eher ernst genommen als, sagen wir, Italiener oder Kanadier? Oder haben sie ein innigeres Verhältnis zur Natur, auch zu unserer eigenen?
Damit jetzt nicht die Falschen in die Hände klatschen und sagen: Siehste! Alles halb so wild – Hans Rosling erkennt den menschengemachten Klimawandel als das zentrale Problem unserer Zeit. Er warnt vor steigendem Meeresspiegel und Dürre und in ihrer Folge, sehr rational, vor massenhafter Migration und vor Krieg.
Mit Stolz betont er, dass Schweden seine CO2-Bilanz seit Jahren regelmäßig offenlegt. Nur so lassen sich Maßnahmen zur Reduktion begründen und rechtfertigen. Greta Thunberg ist im Wissen um diese Bedrohung aufgewachsen. Sie kann auf Fakten verweisen, wenn sie ihr Publikum in aller Welt alarmiert.

Unsere Programmierung hinkt hinterher

Und Hans Rosling hat es vorgemacht. Sein Appell richtet sich an die Vernunft: Er will Programme mit Weitblick anlegen, strategisch, und nach dem Vorbild der Wissenschaft ihren Fortschritt immer wieder durch Bilanzen belegen.
Die Gefahrenlage hat sich verändert. Nur unsere eigene Programmierung hinkt noch immer der Realität hinterher. Denn heute ist es nicht mehr der Tiger, der uns Menschen bedroht. Wir sollten stattdessen den Urwald im Auge behalten.

Martin Tschechne ist Journalist und promovierter Psychologe. Er wurde mit dem Medienpreis der Deutschen Gesellschaft für Psychologie ausgezeichnet. Zuvor erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern (Verlag Ellert & Richter, 2010).

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