Strafe versus Sicherheitsbedürfnis

Die Frage nach der Notwendigkeit und den Grenzen des Strafrechts ist Inhalt von Hassemers Sachbuch. Er plädiert hier für ein Modell, das sich an "Würde, Wirkung und Maß" orientiert, und nicht an Vergeltung oder einem unstillbaren Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft.
Winfried Hassemer war Professor für Rechtstheorie, Rechtssoziologie, Strafrecht und Strafprozessrecht an der Goethe Universität Frankfurt.

Er war zwölf Jahre lang Mitglied des Bundesverfassungsgerichtes, die letzten sechs Jahre davon als Vizepräsident. Mit seinem neuen Buch "Warum Strafe sein muss" legt der versierte Rechtstheoretiker nun eine spannende und für Laien gut lesbare Meditation über den Sinn des Strafrechts vor.

Hintergrund des aufs Prinzipielle zielenden Titels ist die radikale Kritik am Konzept der Strafe, die Hassemer in den siebziger Jahren erlebt hat; im Gegensatz dazu scheint der heutige Zeitgeist weniger grundsätzlich in Frage zu stellen, dass es eines Strafrechtes bedarf, und dass Verbrecher bestraft werden müssen.

Damit ist man aber schon mitten im Thema. Denn Hassemer geht es in seinem Buch nicht nur ausführlich um die Frage, welchen Sinn Strafe macht, und wie sie im modernen Rechtsstaat legitimiert werden kann, sondern auch um den Zusammenhang zwischen Strafrecht und jeweils geltenden gesellschaftlichen Normen.

Rechtssprechung und kulturelles Rechtsempfinden haben Hassemer zufolge immer eine enge Verbindung, Recht ist in gewissem Sinn nichts anderes als die formalisierte Version der sozialen Kontrolle. Was als gerecht oder angemessen gilt, ist also nicht nur eine Frage von juristischen Argumenten und abstrakten Gerechtigkeitsüberlegungen, sondern auch von konkreten gesellschaftlichen Entwicklungen.

Ein Beispiel, das jeder aus den Geschichtsbüchern kennt, wären etwa frühere Rechtspraktiken, die für unser heutiges Empfinden exzessive Strafen für Eigentumsdelikte kannten - der berühmte Diebstahl des einen Laibes Brot zum Beispiel.

Hassemer stellt fest, dass in unserer heutigen Gesellschaft hingegen das Rechtsempfinden Körperverletzungen für weit schlimmer hält als kleine (oder auch größere) Eigentumsdelikte. Dem folgen Gesetze und Strafpraktiken.

Auch der Sinn und die Legitimation der Strafe und des Strafens ist Hassemer zufolge wesentlich an gesellschaftliche Normvorstellungen gebunden.

Hassemer unterscheidet hier zwei Positionen: die alte und veraltete Auffassung der Strafe als Vergeltung eines Verbrechens; und die moderne Vorstellung, dass der Sinn der Strafe in der Prävention weiterer Verbrechen liege.

Nur letztere Position wird heute noch ernsthaft als legitim betrachtet; Strafe als Vergeltung hingegen kommt uns größtenteils archaisch vor. Am Präventionsmodell bleibt Hassemer zufolge aber hochproblematisch, dass sie kein inneres Maß hat.

Denn während die Vergeltung "Auge um Auge, Zahn um Zahn" Strafe am Umfang des vergangenen Verbrechens bemisst, bestimmt Prävention die Strafe am Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft. Dieses ist aber tendenziell unstillbar und niemals zu befriedigen. Prävention neigt demzufolge zu ständiger Verschärfung.

Vor dem Hintergrund der Debatten über Sicherheitsdenken und Überwachungsstaat der letzten Jahre ist dies ein hochaktuelles politisches Problem. Und in dieser Hinsicht macht Hassemer klar: selbst wenn das aktuelle Rechtsempfinden also dazu tendiert, gewisse Täter nach Maßgabe unseres Sicherheitsbedürfnisses auf unbestimmte Zeit wegzusperren, für ein Strafrecht, das sich noch an den Grundrechten und insbesondere den Menschenrechten orientiert, ist dies keine gangbare Lösung.

Hassemer plädiert darum für einen Mittelweg: nicht für Vergeltung, aber doch für ein Präventionsmodell, das sich an "Würde, Wirkung und Maß" orientiert und also allen gesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnissen zum Trotz doch "schuldangemessen" straft.

Allen Überlegungen zur Kulturförmigkeit des Rechts, zur Verbindung von Recht und sozialen Einstellungen und Normen zum Trotz, geht es dem Autor deshalb auch um einen idealen Rechtsbegriff.

Hassemer hat offenbar eine Rechtssprechung im Sinn, die sich nicht wie soziale Kontrolle an den zufälligen Normen einer Gemeinschaft orientiert, sondern an einem überzeitlichen Begriff der Gerechtigkeit, des Maßes und der Menschenwürde.

Besprochen von von Catherine Newmark

Winfried Hassemer: Warum Strafe sein muss. Ein Plädoyer.
Ullstein Verlag, Berlin 2009
366 Seiten, 22,90 Euro
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