Winfried Hassemer: "Strafe muss sein, soweit sie vernünftig ist"

Winfried Hassemer im Gespräch mit Dieter Kassel · 06.04.2009
Die Strafgesetzgebung müsse auf ein sich änderndes Rechtsempfinden in der Bevölkerung reagieren, betont der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer. Da sich die Welt um uns verändere, änderten sich auch unsere normativen Urteile, sagte er. Gerade ist sein Buch "Warum Strafe sein muss: Ein Plädoyer" erschienen.
Dieter Kassel: Zu kurz, zu lasch und am Ende nicht annähernd so lang, wie ursprünglich vom Gericht verkündet – so urteilt ein Teil der Bevölkerung über die in Deutschland verhängten Freiheitsstrafen. Ein anderer Teil verweist auf die hohen Rückfallquoten und das Urteil fällt dann, hier von einem ganz anderen Standpunkt aus gefällt, auch nicht viel besser aus. Relativ positiv hingegen das Urteil des emeritierten Professors für Rechtstheorie, Rechtssoziologie, Strafrecht und Strafprozessrecht und ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer. Er geht in seinem Buch "Warum Strafe sein muss" sehr viel gnädiger mit dem deutschen Strafrecht um. Er sitzt jetzt für uns in unserem Studio in Frankfurt. Schönen guten Tag, Herr Hassemer!

Winfried Hassemer: Tag, Herr Kassel!

Kassel: Was mich auch nach Lesen des Buches immer noch nicht in Ruhe gelassen hat, ist schlicht und ergreifend der Titel "Warum Strafe sein muss". Das klingt so, als träfen Sie gelegentlich Leute, die der Meinung seien, Strafe im Verhältnis Staat und Bürger solle man ganz abschaffen?

Hassemer: Ich stamme aus einer Generation, als ich damals Strafrecht gelernt habe in den 60er-, 70er-Jahren, da gab es sogenannte Abolitionisten. Die haben gesagt, das Strafrecht löst keine Probleme, sondern das Strafrecht ist das Problem, und wenn wir kein Strafrecht hätten, wäre unser Leben viel besser. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mich davon zu überzeugen, dass das Quatsch ist. Ich würde gerne das Strafrecht abschaffen – es wäre besser ohne Strafrecht, ohne Strafe –, aber wenn man es abschafft, hat man das Strafen nicht abgeschafft. Das heißt, das, was wir im Alltag miteinander machen, was wir erleiden, was wir verhängen, sind auch Strafen. Und das Strafrecht hat den Sinn, das zu mildern, jedenfalls in bestimmten, besonders schwerwiegenden Konflikten einzugreifen, Täter und Opfer voneinander zu trennen und zu sagen, ich mache jetzt mal Gerechtigkeit, und ich sorge dafür, dass ihr nicht übereinander herfallt. Insofern finde ich, Strafe muss sein, soweit sie vernünftig ist.

Kassel: Das ist genau der Punkt, Herr Hassemer, also dass Strafe sein muss, dass sie ein sinnvolles Instrument sein kann und schlicht – das haben Sie auch gerade gesagt – unverzichtbar ist in gewissen Zusammenhängen - ich glaube, darüber gibt es doch Einigkeit in weiten Teilen der Bevölkerung. Uneins sind sich dann Laien wie Fachleute, wenn es um das Strafmaß geht. Einfache Frage: Wer entscheidet das denn am Ende überhaupt, ist es eher der Gesetzgeber oder ist es eher im Einzelfall der Richter?

Hassemer: Der Gesetzgeber gibt einen Rahmen, dieser Rahmen, jetzt sagen wir mal von einem Jahr Freiheitsstrafe bis zehn Jahre Freiheitsstrafe bei schwerwiegenden Delikten, und der Rahmen ist weit. Und deshalb kann man am Ende auf Ihre Frage wahrscheinlich nur sagen: Eigentlich entscheidet der Richter.

Kassel: Aber kann er das? Ich meine, wir wissen alle, was für einen Zeitdruck es auch inzwischen im deutschen Rechtssystem gibt. Kann denn ein Richter einen Straftäter wirklich kennenlernen, kann er das Opfer wirklich kennenlernen und am Ende wirklich sagen, das und das ist angemessen?

Hassemer: Da haben Sie recht. Das kann er nicht, er hat nicht die Zeit, er hat nicht das Wissen. Es gibt ein wunderschönes Wort meines Lehrers, das heißt: Der Richter muss eigentlich ein stellvertretendes Gewissensurteil über den Täter fällen. Das heißt, er muss ihn im Grunde besser kennen als seine Frau, er muss ihn sogar besser kennen als der Mensch sich selber kennt. Das ist natürlich unerreichbar. Deshalb ist klar, dass man nicht verantworten kann zu sagen, ich habe einen persönlichen Vorwurf an den Täter, ich als Richter, sondern der Richter, wenn er ehrlich ist, wird sagen müssen.: Ich habe meine Margen, ich habe meine Grenzen, ich habe meine Tradition und innerhalb dieser Tradition bewege ich mich. Und da soll man sich nicht täuschen, in der Rechtsprechung ist relativ gut ausdiskutiert, was 20 Gramm Heroin kosten oder was eine fahrlässige Tötung im Straßenverkehr an Strafe einbringt. Aber man darf nicht – Sie haben das ganz richtig gefragt – man darf nicht der Meinung sein, das werde der Person gerecht. Es ist hölzern, es ist äußerlich.

Kassel: Interessant ist schon, dass Sie sagen, das werde der Person gerecht. Man kann sich ja auf den Standpunkt stellen, es geht um die Tat. Sie haben das gerade mit dem Beispiel, ab welcher Menge ist ein Rauschgift, ist der Besitz oder gar der Handel immer verboten oder der Besitz schon verboten. Aber ein Richter soll ja immer viel mehr bedenken. Und Sie gehen da auch recht weit in Ihrem Buch, da fallen auch Begriffe wie die Zumutbarkeit der Strafe für den Täter und aber auch auf der anderen Seite Begriffe wie Opferneutralisierung. Da kriegt man als Laie eine Gänsehaut.

Hassemer: Sie als Laie, ja?

Kassel: Ja.

Hassemer: Ich nicht. Sagen wir mal so …

Kassel: Sie sind ja kein Laie.

Hassemer: Ja, eben. Sagen wir mal so: Der Richter hat in unserer Kultur – und ich verwende das Wort Kultur mit Bedacht –, der Richter hat in unserer Kultur zwei Wege zu gehen, gleichzeitig: Er hat das Unrecht auf der einen Seite, die Tat – welch ein Rechtsgut wurde verletzt, das Leben, die Freiheit, das Vermögen, die körperliche Gesundheit – und auf der anderen Seite zugleich, was kann der Täter dafür – hat er das mit Bedacht gemacht, hat er das absichtlich gemacht, ist ihm das unterlaufen. Das sind Unterschiede. Und den Unterschieden muss der Richter gerecht werden. Jetzt in Bezug auf den Täter: Er darf, denke ich mal, jedenfalls erst einmal gar nicht wägen, was das Opfer darüber denkt. Er darf auch nicht daran denken, dem Opfer eine Genugtuung durch die Höhe der Strafe zu gewähren, sondern er muss dem Täter zuerst einmal gerecht werden. Täter heißt: Unrecht und Schuld.

Kassel: Er muss natürlich bedenken, ob der Täter betrunken war, ob er im Affekt gehandelt hat und, und, und. Muss er auch bedenken – Sie werden gleich ahnen, worauf ich hinaus will, auf die klassische Boulevard-Schlagzeile: Täter hatte eine schlechte Kindheit, also wird er nicht ordentlich bestraft. Seriöser gefragt: Muss ein Richter auch den persönlichen Hintergrund des Täters beachten?

Hassemer: Ganz sicher. Der persönliche Hintergrund des Täters ist eine Quelle für das, was er getan hat. Wenn einer große Probleme hatte, sich zu sozialisieren, groß zu werden, aufzuwachsen, und sich das in der Tat zeigt, sich dorthin verlängert, dann meine ich, muss der Richter das würdigen. Aber Vorsicht! Er kann es nach zwei Hinsichten würdigen. Er kann sagen, der braucht so viel Strafe bei dieser Art von furchtbarer Sozialisation, dass es reicht. Er kann aber auch sagen, seine Schuld ist gering, weil er selber nicht so viel dafür konnte, was er gemacht hat, sondern das waren eben seine Eltern, das waren seine Schulkameraden, das waren seine Lehrer usw. Das heißt, das kann nach zwei Seiten hin gewürdigt werden, und dann wird die Sache komplex.

Kassel: Aber besteht nicht auch die Gefahr, wenn man das weiß und wenn ein Täter das vielleicht auch schon einmal selbst erlebt hat bei einer Verurteilung, dass so ein Täter dann glaubt, na ja, ich kann machen, was ich will, ich kann ja irgendwo nichts dafür. Ich will noch nicht auf die Debatte mit dem freien Willen oder nicht, sondern einfach auf das Gefühl, na, ich komme aus einer Sozialisation, was soll ich denn machen, ich habe ständig diesen Druck. Es gibt ja auch Täter, die sagen das: Ich werde dann wütend und dann prügel ich los. Ich meine, das ist doch kein Freibrief für zum Beispiel schwere Körperverletzung.

Hassemer: Ja, klar. Es gibt Leute, die so denken, aber das ist ziemlich schlimm. Die Leute haben sich aufgegeben. Und der Strafvollzug, wenn er vernünftig ist, müsste das Ziel haben, sie in dieser Frage wieder aufzurichten. Also nicht zu sagen, ich kann tun, was ich will, ich bin so etwas wie ein Tier – wenn man es jetzt mal ernst nimmt, meine ich, müsste man das so ausdrücken –, ich bin ein Tier, das man von der Kette lässt und dann mache ich, was ich will. Das ist nicht gut, das ist ein schlechtes Leben. Sondern er muss versuchen – und wenn der Strafvollzug gut ist, schafft er das –, er muss versuchen, auf die eigenen Beine zu kommen, zu sagen, das, was ich gemacht habe, habe ich gemacht, das war ich. Das wäre natürlich dann richtig.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit Winfried Hassemer, Autor des Buchs "Warum Strafe sein muss". Herr Hassemer, jetzt reden wir ja über Strafe, schon Ihr Titel legt das nahe, und nicht über den Akt der Bestrafung, nicht nur über das, was vor Gericht passiert, denn natürlich kann Strafe nur irgendeinen Sinn machen, wenn ihr Vollzug auch Sinn macht. Wenn wir über Freiheitsstrafe reden, muss eigentlich ein Richter, der eine Freiheitsstrafe verhängt, dabei auch bedenken, was den Beschuldigten im Gefängnis erwartet?

Hassemer: Ja. Er muss auch eine Ahnung haben, wie die Gefängnisse sind. Kein Gefängnis ist wie das andere. Das liegt nicht nur daran, dass es unterschiedliche Ziele der verschiedenen Vollzugsanstalten gibt, was ja vernünftig ist. Jugendstrafvollzug ist was anderes als Erwachsenen... Der längerstrafige Erwachsenenvollzug ist was anderes als der kurzstrafige Erwachsenenvollzug usw. Das heißt, man versucht, auf die Person, soweit es geht, zu antworten. Das muss der Richter wissen, wenn er eine Strafe verhängt. Und ich denke, das weiß er normalerweise auch.

Kassel: Sind eigentlich Urteile oder – machen wir es allgemeiner – ist das Strafrecht, vielleicht auch mit einer gewissen Verzögerung, vielleicht auch nicht, eigentlich zeitgeistabhängig? Denn wenn man sich Umfragen anguckt im Laufe der Jahrzehnte, ist doch das, was die Bevölkerung will, manchmal ein bisschen unterschiedlich. Sie haben da in Ihrem eigenen Buch auch ein Beispiel, das früher mal Eigentumsdelikte und Delikte im weitesten Sinne im Wirtschaftsbereich für schlimmer gehalten wurden von der Bevölkerung als zum Beispiel Körperverletzung. Das hat sich geändert, vielleicht wegen der Finanzkrise ändert es sich gerade wieder, aber in letzter Zeit ging es eher in Richtung, Körperverletzung ist schlimmer. Muss Rechtsprechung auf so was reagieren oder darf sie es gerade nicht?

Hassemer: Doch, sie muss darauf reagieren. Es gab früher Gesetzbücher, die haben die Hexerei bestraft, und zwar scharf bestraft. Es gab Strafgesetzbücher, die haben die politischen Strafsachen hart bestraft. Die Welt um uns herum ändert sich, es ändern sich unsere normativen Urteile, es ändert sich unsere Sensibilität. Ich glaube, man kann wirklich sagen, wir waren früher gegenüber dem Körper, gegenüber Gesundheitsverletzungen nicht so sensibel, wie wir das heute sind. Heute ist das Rechtsgut Eigentum, das Rechtsgut Vermögen wirklich in der Wahrnehmung der Bevölkerung heruntergestuft relativ zum Rechtsgut Freiheit oder zum Rechtsgut Gesundheit. Ich glaube, man könnte sehr interessante kultursoziologische Diskussionen daran knüpfen, wenn man sich fragt, worauf reagieren wir eigentlich, warum, wie intensiv.

Kassel: Aber wer schützt dann das Strafrecht davor – Zeitgeist klingt noch neutral bis positiv, gesellschaftliche Entwicklung klingt nun ganz positiv, der muss man Rechnung tragen –, aber wer schützt es davor, zum Spielball kurzfristiger Strategien zu werden? Nehmen wir zum Beispiel den berühmten Paragrafen 19 des Strafgesetzbuches, der schlicht sagt: Wer jünger ist als 14, darf nicht Objekt des Strafgesetzes werden. Da kann natürlich die "Bild-Zeitung" drei Mal schreiben, die 13-jährigen Intensivtäter verarschen uns alle, und dann beschließt die Politik irgendwann, wir ändern das, was vielleicht rechtswissenschaftlich nicht fundiert ist. Wer schützt das Strafgesetz vor so was?

Hassemer: Also es gibt ja zum Glück nicht nur die "Bild-Zeitung" …

Kassel: Aber es gibt Kanzler, die gesagt haben, die "Bild" lese ich immer als Erstes.

Hassemer: Das ist auch wahrscheinlich eine vernünftige Idee, wenn man herausfinden will, was die Leute denken. Aber trotzdem stimmt ja, es gibt andere Medien, es gibt intensive Diskurse über Strafrecht, die Leute verstehen viel vom Strafrecht, die interessieren sich dafür, die haben eine Meinung, denen kann man nicht alles aufschwatzen, die kann man auch nicht belügen. Es gibt den Gesetzgeber, der sich verantworten muss, es gibt die Parteien, die sagen, wir müssen mehr opferorientiert sein oder wir müssen die Garantien des Strafrechts bewahren. Es gibt die Gerichte, es gibt das Bundesverfassungsgericht, es gibt eine ganze Öffentlichkeit, die sich über Strafrecht verständigt mit teilweise sehr genau zugewiesenen Zuständigkeiten. Ich glaube nicht, dass wir wirklich in der Gefahr sind in Deutschland, dass ein schlechter Zeitgeist Dummheiten macht im Strafrecht. Ich glaube nicht, dazu gucken wir auch alle zu genau hin.

Kassel: Ich hoffe, Sie behalten recht, bin da aber auch recht optimistisch, bedanke mich für das Gespräch. Das war Winfried Hassemer, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Er hat das Buch geschrieben, "Warum Strafe sein muss: Ein Plädoyer". Und damit wir beide hier nicht verklagt werden, wenn Leute irgendwie umsonst irgendwo hingehen, das Buch erscheint morgen. Heute kann man es noch nicht kaufen. Wir haben sozusagen ein vorfristiges Gespräch geführt. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch!

Hassemer: Ich danke Ihnen auch, Herr Kassel!