Stochastischer Terrorismus

Aufgestachelte Einzeltäter

16:54 Minuten
Ein Zettel "Wir gedenken Malte", daneben viele Grablichter und Blumen
Der Transmann Malte C. wurde beim CSD in Münster zusammengeschlagen, wenig später starb er. © picture alliance / NurPhoto / Ying Tang
Mario Staller im Gespräch mit Katja Bigalke und Martin Böttcher · 10.09.2022
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Der Hass gegen Frauen, Ausländer oder Homosexuelle wird im Internet geschürt, aber die Gewalttat begeht ein Einzelner. In solchen Fällen wird oft von stochastischem Terrorismus gesprochen. Was hat es mit dem Begriff auf sich?

Was ist stochastischer Terrorismus?

Der Begriff Stochastik kommt aus der Mathematik, der Wahrscheinlichkeitstheorie. Stochastischer Terrorismus beschreibt, dass eine anstachelnde Rede einen Gewaltakt wahrscheinlicher macht, auch wenn nicht vorhersagbar ist, wer den Akt wann und wo ausführen wird.
„Der Redner erklärt eine Person oder eine Gruppe zu einer Bedrohung. Vielleicht scherzt er sogar über eine gewaltvolle Lösung. Aber er überschreitet nicht die Grenze, zu Gewalt aufzurufen“, erklärt die FBI-Profilerin Molly Amman. Doch bei irgendeinem Empfänger oder irgendeiner Empfängerin der Botschaft mag sie das Fass zum Überlaufen bringen. Wut, Verachtung und Abscheu für eine Person oder eine Gruppe haben sich angestaut.
Für den Gewalttäter komme dann oft noch ein gefühlter Zeitdruck hinzu, so Amman: „Du musst jetzt handeln, um deine eigene Gruppe zu schützen, die etwas Besonderes ist und schikaniert wird.“ Kommt es zum Gewaltakt, lehnt der Redner oder die Rednerin jegliche Verantwortung ab und missbilligt die Gewalt. Juristisch ist er oder sie oft nicht belangbar, weil keine Absicht nachgewiesen werden kann.

Wie und warum ist der Begriff entstanden?

Den Begriff stochastischer Terrorismus gibt es erst seit wenigen Jahren. Das erste Mal sei er etwa 2011 im Internet aufgetaucht, sagt der Soziologe Mario Staller. Später wurde er zu einem beliebten Begriff, wenn es um Angriffe von Einzelkämpfern ging.

In welchen Fällen wird von stochastischem Terror gesprochen?

Beispiele für stochastischen Terror werden die meisten Nachrichtenleserinnen und -leser schnell im Kopf haben, sei es nun der Sturm auf das US-Kapitol, angefeuert von Ex-Präsident Donald Trump, oder beispielsweise der tödliche Angriff auf den trans Mann Malte C. auf dem CSD in Münster.
Letztendlich gehe es bei den unterschiedlichen Fällen aber immer darum, durch den Begriff stochastischen Terror einen anderen Blick gegenüber den jeweiligen Ereignissen einzunehmen, eine andere „Beobachtungslinse“ von außen auf die Fälle draufzusetzen, betont der Soziologe Mario Staller.
Dabei schaue man mehr auf sogenannte Ermöglichungsbedingungen: „Welches soziale Klima dazu führen könnte, dass Gewalt einfach wahrscheinlicher ist. Die Idee dahinter ist, dass wir uns selber als Gesellschaft oder als soziale Gruppe Gedanken machen können, inwiefern wir zu Ermöglichungsbedingungen praktisch beitragen.“
Man nehme einen anderen Blickwinkel ein, anstatt eine Gewalttat einfach nur der ausführenden Person zuzuweisen: „Das ist eine Linse, die entzieht sich so ein bisschen dem, was wir in unserem Strafsystem haben: Dass wir eine Kausalität in irgendeiner Art und Weise haben.“

Welche Rolle spielen soziale Medien?

Wer eine aggressive Stimmung gegenüber bestimmten Gruppen schüren möchte, hat es im Internet leicht. Zum einen lassen sich „über die Digitalisierung viel mehr Menschen erreichen“, so Staller. „Auf der anderen Seite wird es unglaublich schwer, dass alle, an die wir eine Mitteilung senden, uns auch auf irgendeine Art und Weise verstehen.“
Doch soziale Medien schaffen Filterblasen, „wo ich relativ einfach relativ viele Menschen erreiche, die ein ähnliches Verständnis von Dingen haben, und dann auch meine Sendungen, meine Mitteilungen leichter verstehen – oder dadurch die implizite Aufforderung eher abgreifen und in die Tat überführen. Das ist eine deutliche Veränderung im Vergleich zum vordigitalisierten Zeitalter.“

Welchen praktischen Nutzen bietet der Begriff?

Internetuser, die Hass im Netz verbreiten, strafrechtlich zu verfolgen, sei oft schwer, sagt Staller. Auch für die jeweiligen Internetdienste sei es nicht einfach, gegen die jeweiligen Nutzerinnen oder Nutzer vorzugehen. „Da haben wir im konkreten Fall das Problem: Inwieweit ist das Meinungsfreiheit, wo wird das problematisch. Die Grenzen sind sehr, sehr fließend.“
Nur in „extremen Fällen“ würden die Internetdienste wirklich Konsequenzen ziehen und die Entsprechenden sperren – so wie Twitter bei Donald Trump. „Aber das wird ganz, ganz viele andere Fälle nicht in dem Maße treffen.“

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Der praktische Nutzen der „Beobachtungslinse stochastischer Terrorismus“ liege daher eher darin, „sich selber auf ein anderes Reflexionsniveau zu bringen, zu hinterfragen, inwiefern wir selber Dominanz fördernde Strukturen in den Vordergrund rücken oder andere Menschen dämonisieren“, erklärt er..
Auch Polizistinnen und Polizisten könnten durch das Konzept des stochastischen Terrors sensibilisiert werden. „Wenn Straftaten angezeigt werden im Internet, dass ich mir darüber auch bewusst bin, dass das ein Problem ist – und eben nicht sage: Ja, melden Sie sich doch einfach bei der Plattform ab.“
(Thomas Reintjes, lkn)
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