Stine Pilgaard: "Meter pro Sekunde"

Atemlos an der Küste Westjütlands

05:06 Minuten
Das Cover des Buches "Meter pro Sekunde" der Dänin Stine Pilgaard. Der Name der Autorin und des Buches sind mit weißer Schrift auf Rot geschrieben. Im obersten Teil des Covers sind Wolken zu sehen.
© Kanon Verlag

Stine Pilgaard

Übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel

Meter pro SekundeKanon, Berlin 2022

255 Seiten

23,00 Euro

Von Rainer Moritz · 19.02.2022
Audio herunterladen
Vom Alltag einer postmodernen Mutter, die sich nicht unterkriegen lässt, erzählt Stine Pilgaard. Die Dänin findet eine frische Form des Erzählens für vielfach beschriebene Situationen und Sorgen. Und sogar Schlagerstar Helene Fischer hat einen Auftritt.
Da passiert auf den ersten Blick nicht viel. Eine Frau verlässt Aarhus, zieht mit ihrem Freund - der an einer Volkshochschule unterrichtet - und Kleinkind nach Westjütland, wo Windräder die karge Landschaft prägen und die betont schweigsamen Bewohner zur Unterhaltung selten mehr als kurze Sätze beitragen.
Die 1984 geborene Dänin Stine Pilgaard greift in ihrem dritten (und dem ersten auf Deutsch erscheinenden) Roman „Meter pro Sekunde“ auf ein vertrautes Setting zurück. Mit Sinn für die Komik zermürbender Alltagssituationen seziert Pilgaard in kleinen Episoden ein Leben, das von Windeln, Lauflernstühlen und Babyphones geprägt ist – und davon, dass die junge Mutter stolze 87 zermürbende Fahrstunden benötigt, um den Führerschein auf dem Gnadenweg zu erlangen.

Zwischen Ratschlag und Songtext

Pilgaards Protagonistin, die Ich-Erzählerin des Romans, hat nicht nur mit den verschlossenen Menschen ihrer neuen Heimat zu tun. Sie engagiert eine zupackende Tagesmutter, sucht einen Job und landet schließlich in der „Orakelindustrie“, wird die Kummerkastentante einer Lokalzeitung. Was für Zuschriften sie erhält und auf welch raffinierte, abschweifende Weise sie den mal einsamen, mal verzweifelten und mal bloß skurrilen Ratsuchenden hilft, macht die zweite Ebene des Romans aus.
Eine dritte „Textsorte“ kommt hinzu, als sich die Erzählerin als Songschreiberin versucht – auf der Basis des Højskolesangbogen, eines traditionsreichen Liederbuches, das aktuell über 600 Titel umfasst, von dänischen Volksweisen bis zu den „Moorsoldaten“, „We shall overcome“ und „Wind of Change“.

Übersetzung mit deutschem Schlager

Neun solcher frech umgetexteten Lieder (von denen es eines übrigens in die 19. Auflage des Højskolesangbogens von 2020 geschafft hat) fügen sich in die Romanhandlung ein – und stellten den Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel vor keine geringe Herausforderung.
Die in Deutschland zumeist unbekannten, dänischen Songs hat Schmidt-Henkel zusammen mit seinem Kollegen Frank Heibert kühnerweise durch zugänglichere Lieder ersetzt, darunter Helene Fischers „Atemlos durch die Nacht“. Restlos überzeugen können diese gewollt witzigen Adaptionen freilich nicht.
Doch der erfrischende Eindruck, den dieser Roman hinterlässt, wird dadurch nicht getrübt. „Meter pro Sekunde“ zeugt von der Lust der Autorin, mit Sprache zu spielen und herkömmlichen Familienepisoden neuen Reiz abzugewinnen.

Eine hartnäckige, postmoderne Erzählerin

Die Erzählerin, die sich als „postmoderner Mensch“ begreift, lässt sich von nichts und niemandem unterkriegen, weigert sich partout, den Erwartungen zu entsprechen und ihren Freund zu ehelichen, und bewegt sich an der schwierigen westjütländischen „Kommunikationsfront“ mit zunehmender Sicherheit.
So ist Pilgaards Roman ein intelligentes Lesevergnügen, das Charme, Witz und Menschenfreundlichkeit ausstrahlt – und letztlich eine unterschwellige Einladung ausspricht, sich an die Küste Westjütlands aufzumachen und den „Gemeinschaftssinn“ der dort ansässigen Menschen, für die Unausgesprochenes wichtiger als Ausgesprochenes ist, kennenzulernen.
Mehr zum Thema