Stilblütenmeer

Rezensiert von Volker Hagedorn · 01.11.2009
Es gibt kein Werkregister, und das ist auch gar nicht nötig. In dieser Komponistenbiografie wird nur selten mal ein Takt, ein Satz, eine Opernszene näher behorcht.
Wie kommt die Faszination zustande, die uns immer noch gespannt auf jede Novität von Hans Werner Henze warten lässt, dem jetzt 83 Jahre alten Künstlerfürsten? Wie arbeitet er, wie veränderte sich seine Kunst mit seinem Leben?

Für die "großangelegte Gesamtschau auf Leben und Werk", die Jens Rosteck verspricht, ist es höchste Zeit. Doch "Die Biographie" ist nur eine großangelegte Schwärmerei, in deren Stilblütenmeer unzählige Möglichkeiten untergehen, Vita und Werkstatt konkret zu verbinden. Einmal bricht Ingeborg Bachmann in Tränen aus, weil sie in einer seiner Vertonungen ihr Gedicht nicht wiedererkennt. Gern erführe man da, wie Henze Worte in Töne umsetzt, was ihn darin von anderen Komponisten unterscheidet. Doch lieber fabuliert der 47-jährige Musikwissenschaftler, der den längst gedruckten Briefwechsel der beiden ausführlich nacherzählt, von "zwei blonden jungen Menschenkindern, kaum dreißig", denen das "Fluidum erblüht".

Und wo ihm Henzes funkelnde Memoiren von 1996 nicht persönlich genug werden, lässt er ihn auch frei erfunden einen roten Kopf kriegen. Für Geschwafel ist immer Platz, aber frühe Anreger wie Britten und Strawinsky sind nur "aufregend, bizarr, wunderbar neu".

Wie soll Hans Werner Henze anno 1943 in Braunschweig "erste Hörbeispiele von Atonalität und Zwölfton" erlebt haben? Da war zwar die erweiterte Tonalität von Frank Martins "Zaubertrank" zu hören, doch die Musik von Schönberg, Berg und Webern, schreibt Henze selbst, "blieb mir bis 1946 oder 1947 unbekannt".

Wer Näheres wissen will über das Anknüpfen an Traditionen, das für diesen Komponisten so wichtig ist, stößt auf so vage Hinweise wie den, er habe "Eigentümlichkeiten der Stimmführung von Monteverdi bis Strawinsky berücksichtigt". Dabei kann Jens Rosteck es genauer, wie eine Skizze der Stilmittel in der skandalumwitterten "Medusa"-Partitur von 1968 zeigt.

Beim politischen Komponisten Henze zwischen Apo und Oper gewinnt sein Biograf Rosteck an Klarheit. Doch meist ermüdet der Mangel an Präzision ebenso wie der Überschuss an, Pardon, laienhafter Belletristik. Wo Memoirenschreiber Henze dezent eine suizidale Phantasie auf dem Gipfel des Erfolgs andeutet, walzt Rosteck das zur Blasen werfenden Künstlernovelle aus – und das als Ouvertüre eines Buchs, von dem man sich ein Standardwerk zum Thema erhofft hatte. Henze selbst war an einem Gespräch mit diesem Biografen offensichtlich nicht interessiert. Es hätte auch nicht viel geholfen.

Jens Rosteck: Hans Werner Henze - Rosen und Revolutionen - Die Biographie
Propyläen
576 Seiten, 26,95 Euro
Cover: "Hans Werner Henze" von Jens Rosteck
Cover: "Hans Werner Henze" von Jens Rosteck© Propyläen