Stewart O'Nan: "Henry persönlich"

Zelebrierte Normalität

06:18 Minuten
Das Cover zeigt einen Mann mit Brille mit weißem Hemd und hellem Hut vor einem weißgestrichenen Garagentor. Am Giebel der Garage ist ein Basketballkorb montiert.
Stewart O'Nan neuer Roman "Henry persönlich": Normalität mit Rissen. © Rowohlt Verlag / Deutschlandradio
Von Gabriele von Arnim · 21.10.2019
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Mit seinem neuen Buch "Henry persönlich" schließt Stewart O'Nan an frühere Werke an. Sprachlich brillant schildert O'Nan den Alltag eines gealterten Ehepaares: ein Lesegenuss.
Der 1961 in Pittsburgh geborene amerikanische Schriftsteller Stewart O’Nan, über den in der "Washington Post" einmal stand, er sei offenbar unfähig, auch nur eine falsche Zeile zu schreiben, ist ein besessener Kleinstrichzeichner. Akribisch hält er jede unscheinbare Tätigkeit des banalen Alltagslebens fest – von der Zubereitung des Kaffees, des Erbsenpürees bis zum Einsetzen von Frühlingszwiebeln – und malt dabei ein Genrebild des ökonomisch gefährdeten Mittelstands.

Emilys Leben zurückgedreht

Nach seinem hinreißenden Roman "Emily, allein", in dem eine 80-jährige Witwe mal bekümmert, mal emsig ihre Tage verlebte, hat er nun die Zeit zurückgedreht, hat ihren toten Mann Henry zum Leben erweckt und erzählt von den letzten gemeinsamen Jahren der beiden. Ein unauffälliges Paar in einem unauffälligen Leben.
Die Kinder sind längst aus dem Haus. Emily kocht und löst Kreuzworträtsel; er, ein ehemaliger Ingenieur, repariert und renoviert, sieht Baseballspiele im Fernsehen und kümmert sich um die neuen Reifen fürs Auto. Sie gehen nicht ins Kino, nicht ins Theater, nicht ins Konzert, sondern sitzen zu Hause am Kamin, lesen und hören Musik. Er trinkt seinen abendlichen Scotch. Hin und wieder essen sie im Club. Die beiden leben sparsam und spenden, wo sie können. Sie backt für den Kuchenbasar, er sammelt Ausrangiertes für den Kirchenbasar.
Und wir Leser folgen dem gewieften O’Nan gespannt und neugierig in die Gleichförmigkeit ereignisloser Tage – mit anderen Worten: ins richtige Leben, in dem dann doch immer irgendetwas geschieht. Der Briefkasten muss erneuert, Steuern müssen bezahlt werden, das Knie schwillt an, man muss zum Arzt.
Weihnachten naht, also strickt sie ihm heimlich einen warmen Pullover, und er kauft einen Tannenbaum. Hin und wieder kommen Kinder und Enkel zu Besuch, die Tochter trinkt, die Schwiegertochter zickt, Henry geht Golf spielen. Im Sommer zieht man um ins leicht ramponierte Haus am See.

Filigran geschrieben

O’Nan, der selbst Flugzeugingenieur war, bevor er Schriftsteller wurde, schreibt so filigran tüftelnd, wie sein Henry im Keller werkelt. Das kann passagenweise zu lang und ein wenig fad werden. Aber das feine Porträt dieses alten Mannes ist dennoch ein Lesegenuss. Immer wieder zieht die Vergangenheit ein in seinen Kopf: Bilder aus der Kindheit; Schrecken des Krieges, in dem er gekämpft hat; aber auch Erinnerungen an die Liebe und die Lust.
Noch immer wünscht der staunend liebende Henry sich weiche Küsse im Mondlicht und romantische Zweisamkeit, der Emily sich meist leicht patzig entzieht. Erstaunt stellt er fest, dass er nach fast fünfzig Jahren Ehe seine Frau noch immer nicht wirklich durchschaut, sie nicht in all ihren Winkeln kennt. Und es ist diese Sensibilität, diese Wahrnehmung dessen, was ihm fremd geblieben ist, die Henry zu einer – in all ihrer Überschaubarkeit – bemerkenswerten Persönlichkeit macht.
Die scheinbare Normalität, die O‘Nan erzählt, bekommt immer mehr Risse, so dass sich statt einer glatten Oberfläche ein feines Gefädel von Welt, Gefühlen und Fragilität offenbart.

Stewart O’Nan: "Henry persönlich"
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019
480 Seiten, 24 Euro

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