Schriftsteller Stephan Wackwitz

„Wir haben Putin nicht zugehört“

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Wladimir Putin mit nach oben gerichteten Blick. Im Hintergrund ist die russiche Flagge zu sehen.
Die Vision Putins sei, hinter die Nationalitätenpolitik Lenins zurückzugehen. Die Sowjetrepubliken hätten seiner Ansicht nach zu viele Austrittsrechte bekommen, so Stephan Wackwitz. © AFP / POOL / Thibault Camus
Stephan Wackwitz im Gespräch mit Joachim Scholl · 25.02.2022
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Putin habe immer gesagt, was er vorhabe – das sei aber nicht ernst genommen worden, sagt der Schriftsteller Stephan Wackwitz, der Goethe-Institute in osteuropäischen Ländern geleitet hat. Der russische Präsident strebe eine Art neues Zarenreich an.
Der Krieg in der Ukraine schockiert die demokratische Welt. Viele können nicht fassen, dass das passiert.
Anders Stephan Wackwitz, der viele Jahre Goethe-Institute in Krakau, Bratislava, New York, Minsk und Tbilissi geleitet hat. Seine Erfahrungen sind in den Essay „Eure Freiheit, unsere Freiheit. Was wir von Osteuropa lernen können“ eingeflossen, den er vor drei Jahren veröffentlicht hat und der auch heute höchst aktuell ist. Er spricht von einer Blindheit, mit der vor allem westdeutsche Linke und Liberale seit Jahrzehnten geschlagen seien.
Diese Blindheit beziehe sich auf die demokratischen Bestrebungen in der Ukraine und insgesamt die „Gesellschaften und Länder, die sozusagen zwischen Deutschland und Russland sind“, so Wackwitz. Man habe sich immer sehr auf Russland konzentriert. Man tue auch so, als hätte Hitler nur Russland angegriffen. „Hitler hat die Ukraine angegriffen. Die Ukraine hat also Hitler auch besiegt. Es waren sehr viele ukrainische Soldaten da, aber das wird ausgeblendet.“

Putins Plan seit 2008

Der ukrainische Schriftsteller und Psychoanalytiker Jurko Prochasko nenne das den „imperialen Eros“. Der bestehe darin, „dass ein ehemaliges Imperium wie das deutsche instinktive Sympathien hat mit einem offenen Imperialismus, weil es den eigenen Imperialismus sozusagen verdrängt hat.“ Das sei sehr einleuchtend für ihn.
In Stephan Wackwitz’ Text steht auch, dass der Plan Putins dazu, was nun geschieht, schon seit 2008 gefasst war, als Russland Georgien „beistand“, wie es damals hieß. Die Provinzen Südossetien und Abchasien hatten sich nach dem Zerfall der Sowjetunion von Georgien losgesagt, es kam mehrfach zu bewaffneten Konflikten. Der fünftägige Krieg zwischen Russland und Georgien 2008 löste die bis dahin schwerste Krise zwischen Ost und West seit Ende des Kalten Krieges aus. Georgien verlor die Provinzen endgültig, Russland erkannte ihre Unabhängigkeit an, EU und USA nicht.

Zurück hinter die sowjetische Nationalitätenpolitik

„Wir haben damals nicht zugehört“, sagt Wackwitz. Putin habe immer gesagt, was er vorhat. „Er hat ja gesagt, die Auflösung der Sowjetunion war die zentrale Katastrophe des 20. Jahrhunderts.“
Anfang der Woche habe der russische Präsident „in dieser auch irgendwie verrückt wirkenden, einstündigen Rede historische Vorträge gehalten, in denen er gesagt hat: ‚Ich möchte eigentlich zurückgehen hinter die Nationalitätenpolitik von Wladimir Iljitsch Lenin‘“. Außerdem habe er Folgendes geäußert: „Ich möchte im Grunde zu einer Art Zarenreich zurück. Lenin hat die Sowjetrepubliken mit zu vielen Rechten, die Union zu verlassen, ausgestattet.“
Diese Vorstellungen setze er jetzt offenbar in die Realität um, so Wackwitz. „Es ist wie bei Dürrenmatt bei ‚Biedermann und die Brandstifter‘: Er sagt immer, was er machen will, aber wir hören nicht zu. Wir denken, das sind Drohungen und er will da irgendwie seine Verletztheit offenbaren. Nein, er sagt, was er macht.“
Der russische Soziologe Aleksandr Dugin hat in einem Interview, aus dem Wackwitz in seinem Essay zitiert, nach der Georgien-Intervention solche Aktionen als politische Ultima Radio verteidigt – mit dem offensiven Ziel einer „Eingliederung Europas in ein russisches Reich“. Nach der Rede Putins von Anfang der Woche und angesichts dessen, was man sonst so höre, habe man tatsächlich den Eindruck, dass relevante Entscheider in Moskau von solchen Gedanken umgetrieben würden.

Neuer Blick auf Europa von Osten aus

Wackwitz plädiert in seinem Text auch für einen anderen Blick auf Europa. „Wenn man von Deutschland, von gesicherten demokratischen Verhältnissen aus, auf Europa guckt, ärgert man sich über gewisse Bürokratismen und so weiter.“ Wenn man aber von der Ukraine oder Polen oder der Slowakei aus auf Europa schaue, sehe man überhaupt erst die „unglaublichen Chancen, die in diesem Kontinent stecken“.
Die einzige ernste Revolution, die unter Europafahnen stattgefunden hat, sei die auf dem Maidan in der ukrainischen Hauptstadt gewesen. Es habe ihn in diesen „Zwischengesellschaften“ immer sehr berührt, wie viel Hoffnung da sei, auf Deutschland, auf Frankreich und die EU. „Ich glaube, wir sollten unsere Gesellschaften viel stärker aus dieser östlichen Perspektive betrachten. Dann können wir auch verstehen, welche Utopie eigentlich in ihnen steckt.“
(abr mit dpa)

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