Stephan Lessenich: „Nicht mehr normal"

Eine Kritik der Spießergesellschaft

06:25 Minuten
Buchcover zu Stephan Lessenichs „Nicht mehr normal"
© Hanser Berlin

Stephan Lessenich

Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des NervenzusammenbruchsHanser Berlin, Berlin 2022

160 Seiten

23,00 Euro

Von Jens Balzer · 26.09.2022
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Der Soziologe Stephan Lessenich beschäftigt sich mit der Sehnsucht nach Normalität in Zeiten der Krise – und erklärt, warum wir uns damit abfinden müssen, in einer "postnormalen" Gesellschaft zu leben.
Das ist doch nicht mehr normal: Das ist ein Gefühl, das gegenwärtig viele Menschen ergriffen hat. Die Krisen folgen in immer schnellerem Takt aufeinander, die Klimakrise, die Finanzkrise, die sogenannte Migrationskrise, die Pandemie, schließlich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und seine wirtschaftlichen Folgen, deren Ausmaß noch gar nicht abzuschätzen ist.
Allenthalben wünscht man sich sehnlich zurück in den verlorenen Zustand der Normalität. Aber gibt es überhaupt ein Zurück dorthin? Oder müssen wir uns darauf einstellen, dass wir künftig in einer „postnormalen“ Gesellschaft existieren? Wie wird eine solche Gesellschaft aussehen, welche Dynamiken werden sie prägen?
Das sind die Fragen, denen der Soziologe Stephan Lessenich in seinem neuen Buch „Nicht mehr normal“ nachgeht. „Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“ lautet der Untertitel: Überall sieht Lessenich die Zeichen einer wachsenden Gereiztheit; deren Grund – das ist seine zentrale These – liegt wesentlich auch darin, dass die Menschen in den kapitalistischen Industrienationen im Angesicht der Krisen erkennen müssen, dass das, was sie bislang für Normalität hielten, nur etwas Scheinhaftes und Irrsinniges war, eine ideologische Verblendung.

Nur die Abschaffung des Kapitalismus kann helfen

Lessenich ist seit vorigem Jahr als Direktor am Frankfurter Institut für Sozialforschung tätig. Sein Buch schwankt in manchmal kurzweiliger, manchmal auch seinerseits etwas überreizt wirkender Weise zwischen gründlicher Begriffsanalyse und pamphlethaftem Ton.
Im ersten Kapitel geht er der Frage nach, warum wir uns überhaupt Normalität wünschen, wie diese gesellschaftlich hergestellt wird und wie sich unsere Vorstellungen von Normalität wandeln. Darin gelingen ihm die interessantesten Beobachtungen, aus kleinen Alltagsszenen heraus blickt er auf die Entstehung gesellschaftlich gültiger Verabredungen und Normen.
In den folgenden vier Kapiteln versucht er dann vorzuführen, warum das, was die Menschen in den westlichen Industrienationen als Normalität betrachten, von Voraussetzungen lebt, die heute nicht mehr gegeben sind. Der Kapitalismus und der mit ihm verbundene Wohlstand im Westen hat sich aus der Ausbeutung kolonisierter Völker ergeben. Die Industriegesellschaft lebt immer noch vom ungehemmten Verbrauch natürlicher Ressourcen, die sich nun als endlich erweisen – oder als Streitgegenstände in politisch brisanten Konflikten.
Der Finanzkapitalismus der vergangenen drei Jahrzehnte schließlich gründet darauf, dass wirtschaftliche Wetten auf die Zukunft gemacht werden, die sich immer weniger einlösen lassen. Darum folgen die Krisen immer schneller aufeinander. Aber die Lösung des Problems – für Lessenich kann das nur die überfällige Abschaffung des Kapitalismus sein – wird immer weiter vertagt.

Befremdliche Analysen

So kann es nicht weitergehen: Das ist ja auch ein Gefühl, das gegenwärtig viele Menschen ergriffen hat. Lessenich gibt alles, um dieses Gefühl zu nähren. Aber wie es stattdessen weitergehen kann, erfährt man von ihm auch nicht so recht. Er begnügt sich vielmehr damit, dem deutschen Spießbürger, dem „autoritären Charakter“ – wie es frühere Generationen im Institut für Sozialforschung formuliert hätten – oder dem „alten weißen Mann“ – wie er heute lieber sagt – den Spiegel der Selbstverkennung vorzuhalten.
Was seine Berechtigung besitzt. Was freilich aber auch die Frage offenlässt, ob diese Art der ausschließlich die engere eigene Umgebung in den Blick nehmenden Ideologiekritik bei der Erklärung der gegenwärtigen globalen Krisen hilft.

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Die Pandemie ist nun wirklich nicht der Selbstverkennung satter westlicher Gesellschaften entsprungen; und die aktuelle Energiekrise hat mit politischen Fehlentscheidungen im Westen zu tun, aber ihr Auslöser ist der imperialistische Angriffskrieg eines Diktators.
Wenn Lessenich schreibt, „die Fixierung auf den Dämon Putin“ diene in Deutschland vor allem dazu, um den eigenen Ressourcenhunger zu kaschieren, dann ist das zumindest befremdlich und deutet auf eine vielsagende Leerstelle in seinem Buch. Zur Normalität der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland gehörte auch die Gewissheit, in einem demokratischen Staat zu leben.

Lust an der Apokalypse

Das Krisenempfinden der Gegenwart rührt auch daher, dass diese Demokratie durch imperialistische Autokraten bedroht wird - aber das ist Lessenich keine Erwähnung wert; die Demokratie scheint ihm nur der ideologische Überbau des Kapitalismus zu sein und nichts, was sich zu verteidigen lohnt.
Zum Ende steigert er sich in eine immer farbenkräftige ausgemalte Lust am Untergang der aktuellen Spießergesellschaft, am Untergang des Westens, an der Apokalypse. Und das ist, bei aller von ihm ausgiebig ausgeführten Kritik am deutschen Wesen, dann doch wieder sehr deutsch.
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