Stephan Grotz: „Walter Benjamins Auerbach"

Wie Walter Benjamin ein Buch über Dante las

Stephan Grotz: „Walter Benjamins Auerbach". Das Cover ist schlicht und grau.
© Edition Thanhäuser

Stephan Grotz

Walter Benjamins Auerbach. Ein wiedergefundenes Buch aus einer verschollenen BibliothekEdition Thanhäuser, Ottensheim 2022

54 Seiten

20,00 Euro

Von Michael Opitz |
Ein spektakulärer Bücherfund aus der verschollenen Bibliothek Walter Benjamins ist die Grundlage für das neue Werk des Philosophen Stephan Grotz. Ein schmaler Band, doch eine große Chance, mehr über Benjamin als Leser zu erfahren.
Walter Benjamin war ein Bibliophiler, er besaß eine umfangreiche Bibliothek. In seinem Essay „Ich packe meine Bibliothek aus“ beschreibt er, wie jede Bestellung eines Buches aus dem Katalog eines Antiquars mit bohrender Ungewissheit einherging, denn aus Erfahrung wusste der Sammler, dass es neben „beglückenden Funden“ auch „empfindliche Enttäuschungen“ gab.
Von einem sensationellen Bücherfund erzählt Stephan Grotz, Philosoph im Hauptberuf, in „Walter Benjamins Auerbach“. Antiquarisch erstand Grotz die Erstausgabe von Erich Auerbachs „Dante als Dichter der irdischen Welt“ (1928). Ein Kleinod, wie sich herausstellte, denn das Exemplar enthielt nicht nur eine Widmung des Autors für Walter Benjamin, sondern auch Anmerkungen und Unterstreichungen Benjamins, der das Buch seines Freundes akribisch durchgearbeitet hat.

Eine verschollene Bibliothek

Einem Juwel gleicht dieses Buch, wenn man sich das Schicksal von Benjamins verschollener Bibliothek vergegenwärtigt. Ihre Geschichte ist zugleich verbunden mit dem tragischen Schicksal ihres Eigentümers, der als ins Exil getriebener Jude Opfer der NS-Barbarei wurde. Diese gesellschaftspolitischen Zusammenhänge lassen sich ausgehend von dem nun wiederentdeckten Buch erschließen, wobei eine methodische Herangehensweise zur Anwendung kommt, die Benjamin favorisierte: Die großen Zusammenhänge werden aus kleinsten Details entwickelt. Der forsche Drang aufs große Ganze war Benjamin fremd. Sein Interesse galt stets dem Kleinsten, das drohte, übersehen und vergessen zu werden.  
Als Benjamin 1933 gezwungen war, ins Exil nach Frankreich zu gehen, musste er seine umfangreiche Bibliothek in Berlin zurücklassen. Später gelang es, einen Teil der Sammlung bei Brecht in Skovbostrand (Dänemark) unterzustellen. Als dieser allerdings sein dänisches Exil verlassen musste, wurden die Bücher nach Paris zu Benjamin geschickt. Was muss in ihm vorgegangen sein, als er die Reste seiner Sammlung auspackte? Ohne seine Bücher trat er seine letzte Reise an, die ihn über die Pyrenäen in die USA führen sollte – doch dort kam er nie an. Alles, was die Gestapo in seiner Pariser Wohnung fand, wurde konfisziert und niemand weiß bis heute, wo seine Bibliothek verblieben ist, aus der nur seine Kinderbuch-Sammlung gerettet werden konnte.

Anmerkungen, kenntnisreich gedeutet

Dass nun ein Buch aus dieser verschollenen Sammlung aufgetaucht ist, gleicht einer Sensation. Denn da es sich um ein Exemplar mit neun Benjamin-Marginalien handelt, erhält man auch wichtige Informationen über den Leser Benjamin, für den sich Grotz besonders interessiert. Kenntnisreich deutet er jede einzelne, als Faksimile im Buch abgebildete Anmerkung. Besonders aufschlussreich ist Benjamins Verweis auf Andrej Bretons Buch „Nadja“, der zeigt, dass Benjamin Auerbachs Buch vor dem Hintergrund seiner eigenen Studien gelesen hat - „Nadja“ ist auch Thema in seinem Surrealismus-Aufsatz, an dem er zur selben Zeit arbeitet.
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