Stefan Hertmans: "Der Aufgang"

Porträt eines belgischen Schreibtischtäters

12:49 Minuten
Stefan Hertmans im Halbprofil. Der 71-Jährige hat graue Haare und trägt einen Bart. Sein Sakko ist weinrot, sein Hemd blau.
Stefan Hertmans Roman "Krieg und Terpentin" war für den International Man Booker Prize 2017 nominiert. © Saskia Vanderstichele
Stefan Hertmans im Gespräch mit Frank Meyer · 12.05.2022
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Auf dem Kaminsims hat eine Büste von Hitler gestanden – das hörte Stefan Hartmanns beim Hauskauf 1979. Nach vielen Jahren und einem weiteren biografischen Zufall legte er los: Er schrieb über den flämischen SS-Mann, der in seinem Haus gewohnt hatte.
Stefan Hertmans hat mit „Der Aufgang“ ein Buch über einen Schreibtischtäter in Belgien geschrieben. Es ist auch ein Porträt einer Epoche ist. Zentrale Figur ist Willem Verhulst, ein flämischer SS-Mann.
„Verhulst hat Listen gemacht und vermutlich sehr viele – mehr als 300 bis 400- Leute seiner eigenen Stadt Gent verraten“, sagt Hertmans heute. „Die wurden dann meistens in die Dossin-Kaserne in Mechelen gebracht und von dort aus nach Dachau oder Auschwitz.“

Schreibtischtäter und Feigling

„Er war ein richtiger Schreibtischtäter“, stellt Hermans fest, der im Jahr 2017 für den International Man Booker Prize nominiert war für einen anderen historischen Roman: "Krieg und Terpentin". Die Kinder des SS-Mannes Verhulst hätten ihm gesagt, der Vater habe nicht einmal seine Pistole richtig halten können „Er war etwas feige", so Hertmans. "Aber das sind natürlich die richtigen Männer, um dann in aller Verborgenheit Listen zu machen und die eigenen Leute zu verraten und das zu tun, angeblich aus Idealismus für ihr Volk.“
Nach dem Krieg setzte Verhulst sich nach Deutschland ab, wurde von einer belgischen Widerstandsgruppe aufgespürt. Er sei dann in Belgien wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden, berichtet Hertmans. Die Strafe sei sogleich in lebenslang umgewandelt worden, und nach einigen Jahren in der Haft sei er vorzeitig entlassen worden.
Hertmans kam durch mehrere biografische Zufälle zum Thema: „Hier auf dem Kaminsims hat eine Büste von Adolf Hitler gestanden“, hörte er, als er das Haus besichtigte, das er 1979 kaufte und in dem er zwanzig Jahre lang lebte. „Ich hörte die Leute natürlich sagen, in deinem Haus hat ein SS-Mann gewohnt, aber es interessierte mich fast nicht. Ich war ein Schriftsteller, der sich selbst intellektuell an der Post-Avantgarde-Literatur intellektuell orientierte.“ Einen historisierenden Roman zu schreiben habe ihn nicht die Bohne interessiert damals.

Schriften der Familie Verhulst

Mit dem Roman habe er angefangen, als sein ehemaliger Professor, der Historiker Adrian Verhulst, der Sohn von Willem Verhulst, zwei Jahre vor seinem Tod ein Buch veröffentlichte. Titel: "Sohn eines Kollaborateurs".
In dem Moment sei ihm bewusst geworden, dass er dem mal nachgehen müsse, was in seinem Haus während des Zweiten Weltkriegs geschehen sei. Und dann habe auch noch die Tochter ein Buch geschrieben, Titel: „Tochter einer fantastischen Mutter“. Und da habe er sofort verstanden: „Das ist eine zerrissene Familie.“
Neben Verhulsts Ehefrau, eine holländische Protestantin und Pazifistin, gab es eine Mätresse, „die eine richtige Nazi-Frau war: Die ist 2004 in London gestorben, auch mit einer Hitler-Statue auf dem Kamin.“
Fast jeder in der Familie des Schreibtischtäters habe geschrieben, sodass er viele Einblicke gehabt habe. Er habe zudem die Anklageschrift eingesehen und dann auch mit den Töchtern gesprochen. So habe er über sehr viel Material verfügt, "um die Intimität eines Faschisten und seiner Familie so zu beschreiben, wie das war in Flandern."
Diese Geschichte von Intimität und Politik im europäischen Rahmen habe ihn sehr gefesselt, sagt Hertmans. "Das Buch erzählt nicht nur das Leben eines Mannes, sondern eine ganze vergessene Epoche in Flandern, in der sich Leute abspalten wollten von Belgien und das Land richtig hassten."

Aufarbeitung der Weltkriegszeit in Belgien

Die Kollaboration sei sehr lange verdrängt worden in Belgien: "Ich sage immer, all die Nazis in anderen europäischen Länder sind als Nazis behandelt worden. Aber die Flamen kamen von der Ostfront und sagten: 'Wir sind flämische Idealisten, wir haben gekämpft gegen Belgien'", sagt Hertmans.
Allerdings müsse man sich da fragen, wie man seinem Land durch die Denunziation von Juden, Freimaurern und Widerstandskämpfern dienen könne: „Das hat nichts mit Idealismus zu tun“, sagt der Schriftsteller. „Und diese Lüge lebt noch immer auf der extremen Rechten.“

Stefan Hertmans: "Der Aufgang"
Aus dem Belgischen übersetzt von Ira Wilhelm
Diogenes, April 2022
480 Seiten, 26 Euro

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