Stefan Aust/Adrian Geiges: "Xi Jinping"

Wie tickt der mächtigste Mann der Welt?

14:37 Minuten
Eine Frau fotografiert eine Rede vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping auf einem grossen Bildschirm auf der Strasse in Beijing während der 100-Jahres-Feier der kommunistischen Partei. China, 1.Juli 2021.
Regieren mit allen Mitteln - Adrian Geiges und Stefan Aust zeichnen Xi Jinpings Weg an die Spitze der chinesischen Regierung und der KP nach. © AFP / Noel Celis
Adrian Geiges im Gespräch mit Christian Rabhansl · 03.07.2021
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Kaum Quellen und persönliche Begegnungen, dafür Interviews und viele Gespräche mit Chinesen im Land: Adrian Geiges berichtet über die Recherchewege für sein Portrait von Xi Jinping und die Beschreibung seines Aufstiegs an die Spitze der Volksrepublik China.
Christian Rabhansl: Wer ist der mächtigste Mensch der Welt? Für Stefan Aust und Adrian Geiges ist die Sache ziemlich klar: der chinesische Staatspräsident Xi Jinping. Die Journalisten haben mit "Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt" ein Buch über Xi geschrieben und über seinen eigentlich ziemlich unwahrscheinlichen Weg zur Macht.
Herr Geiges, Xi ist ja 1953 in Peking in eine zwar privilegierte Familie hineingeboren. Trotzdem hat er eigentlich jeden Grund gehabt, zum Dissidenten zu werden.
Geiges: Das ist richtig. Sein Vater war Opfer der Kulturrevolution, wurde gefoltert und ins Gefängnis gesperrt. Xi selbst wurde – wie alle Jugendlichen damals – aus den Städten aufs Land verbannt. Trotzdem ist er überzeugter Kommunist geblieben. Es gab einen kurzen Moment, da wollte er ausbrechen. Da ist er dann aus dem Dorf, in das er verbannt worden war, in die Stadt zu seinen Verwandten in Peking geflohen. Seine Eltern waren bereits beide verbannt.
Diese Verwandten – wie seine Eltern Revolutionäre der ersten Stunde – haben auf ihn eingeredet: "Nein, bei all dem, was passiert, was vielleicht nicht so gut ist, wir müssen weiter für diese Revolution kämpfen, das ist das Ideal, für das wir alle eintreten. Außerdem, wenn du nicht in der Spur bleibst, hat das Nachteile für die ganze Familie."
Er hat daraus die Konsequenz gezogen, noch röter als rot zu werden. Er hat zehn Mal einen Aufnahmeantrag in die Kommunistische Partei gestellt, erst dann wurde er aufgenommen. Von da an ist er sein ganzes weiteres Leben ein sehr linientreuer Kommunist geblieben.
Rabhansl: Das klingt erst mal nach reinem Machtkalkül. Mir erklärt das aber noch nicht ganz, wie ein Mensch, dessen Familie so unter den staatlichen Repressionen gelitten hat, dann später, wenn er selber an der Macht ist, diese Repressionen – modern mit Digitaltechnik –, noch umso mehr ausbaut und verstärkt. Begreifen Sie diesen Menschen Xi?
Geiges: Es ist kein reines Machtkalkül, er ist auch Überzeugungstäter. Wir schreiben im Buch ja auch: Kommunismus ist wie eine Religion für Leute, die nicht an Gott glauben. Überzeugte Kommunisten lassen sich nicht so leicht erschüttern. Es gibt sicherlich auch viele Theologen, die viel Schlimmes aus den Kirchen wissen und trotzdem überzeugte Katholiken oder Protestanten bleiben. So ist auch Xi Jinping ein überzeugter Kommunist, der denkt: "Na ja, nur weil da manches schiefgelaufen ist, heißt das nicht, dass die Sache falsch wäre."

Kampf gegen seine Gegner und die Korruption

Rabhansl: Den Glauben an die Sache hat Xi schon häufig auch dazu genutzt, um sich selber voranzubringen. Er inszeniert sich und seinen Aufstieg, wenn ich das bei Ihnen richtig verstehe, als den Aufstieg eines Saubermanns. Dieses Image hat er auch genutzt, um reihenweise parteiinterne Konkurrenz ins Gefängnis und ins Umerziehungslager zu stecken, oder?
Geiges: Absolut. Er hat aus seiner Sicht das Nützliche mit dem Notwendigen verbunden. Er hat gesehen: Die Macht der Partei ist bedroht, wenn sie in der Bevölkerung als eine korrupte Partei verschrien ist. Er hat aber diese Antikorruptionskampagne, mit der er gleich nach seinem Machtantritt gestartet ist, auch genutzt, um seine Gegner ums Eck zu bringen.
Diese Mischung aus Überzeugung und persönlichem Ehrgeiz findet man auch in ganz anderen Parteien, auch in demokratischen Parteien. Nur haben demokratische Parteien nicht die Möglichkeit, mit Gewalt bestimmte Positionen durchzusetzen.
Rabhansl: So wie das Buch geschrieben und wie es aufgebaut ist, kann es nicht leicht gewesen sein, verlässliches Material über ihn zu finden. Sie sind dann teilweise darauf angewiesen, aus den offiziellen Biografien zu zitieren, die natürlich mit Skepsis zu genießen sind. So nähern Sie sich immer über Umwege, über politische Gefährten, über seine Ehefrau, die Sie die chinesische Helene Fischer nennen - sie ist ein Gesangsstar in China. Sie schreiben viele Kapitel über alle möglichen Themen: die Handelskriege, den Umweltschutz in China, über TikTok, über Konfuzius. Alles streift Xi immer von außen. Wie schwierig ist es, an verlässliche Infos zu kommen?
Geiges: Eine Biografie des amtierenden Staats- und Parteichefs ist in China ein großes Politikum. Selbst ein chinesischer Journalist oder eine chinesische Journalistin könnte nicht einfach so eine Biografie schreiben, selbst wenn sie nur positive Sachen schreiben würden. Da gäbe es zu viele Fettnäpfchen. Es gibt auch in China keine Biografie. Wir zitieren mal eine, die wir 'offizielle Biografie' nennen. Das sind nur 20, 30 Seiten, ein Anhang zu seinen Schriften.
Eine wichtige Quelle sind tatsächlich seine Schriften. Denn das zeichnet sozialistische Länder aus: Die ganzen Auftritte der Parteiführer, ihre gesamten Reden und Schriften werden veröffentlicht. Das war auch in der Sowjetunion und der DDR so. In seinen Schriften legt Xi eigentlich sehr offen dar, was seine Vorstellungen sind. Da braucht man gar keine Geheimdokumente zu entdecken. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, was eigentlich seine Ziele sind. Das ist eine wichtige Quelle gewesen.

Phrasen, die durchaus etwas aussagen

Rabhansl: Da gibt es natürlich das Problem: In seinen Schriften zeigt er sich natürlich so, wie er sich gerne darstellen möchte. Sie zitieren absatzweise, ich muss sagen, Phrasen, etwa, wenn er sagt und schreibt: "Die Häuser sind zum Wohnen da, nicht zur Spekulation." Oder: "Wir müssen die Armutsbekämpfung durch Bildung fördern." Natürlich sind das Phrasen, die man auch in jedem zweiten deutschen Wahlprogramm findet. Aber wenn Sie ein Buch über Deutschland schreiben würden, würden Sie das wahrscheinlich gar nicht zitieren, weil es einigermaßen leere Sätze sind. Ist das nicht auch unbefriedigend, auf so etwas angewiesen zu sein?
Geiges: Er sagt Phrasen, die durchaus etwas aussagen. Zum Beispiel: Wir dürfen niemals von Stalin abgehen. Er sagt, die kommunistische Partei der Sowjetunion ist deshalb untergegangen, weil sie ihre eigene Geschichte infrage gestellt habe. Da sagt er schon sehr offen, was seine Ziele sind. Es wird ja, wie gesagt, fast alles von ihm veröffentlicht. Das sind ja nicht nur Sachen, die – wie momentan die Autobiografie einer Politikerin – tatsächlich für die Selbstdarstellung gedacht sind, sondern es geht darin auch darum, wie er Funktionäre für bestimmte Ziele einpeitscht. Da kann man schon mehr erfahren. Unabhängig davon ist unser Buch natürlich auch ein Buch über China. Es fließt auch ein, was Stefan Aust und ich in meinen zehn Jahren in China erlebt haben. Es gibt natürlich auch Personen, die wir dort befragt haben.

Ein Besuch und dann ein Anschlag

Rabhansl: Das bildet einen großen Teil des Buches. Ein Thema des Buches haben wir noch nicht angesprochen, dabei ist es sehr zentral: die digitale Diktatur, dieser Überwachungsstaat, die Umerziehungslager für Millionen von Uiguren, der Kampf um Taiwan, der Kampf um Tibet und natürlich das Ende der Demokratie in Hongkong. Insbesondere bei der Unterdrückung der Uiguren geben Sie ihm ganz besonders viel persönliche Verantwortung – habe ich das richtig gelesen?
Geiges: Er trägt persönliche Verantwortung für alles, was in China passiert, weil seine Macht viel größer ist als die von Angela Merkel oder Joe Biden in ihren Ländern. Aber mit Xinjiang, also der Provinz, in der überwiegend Uiguren leben, verbindet sich eine persönliche Geschichte. Ausgerechnet als er dort einen Auftritt hatte, gab es dort einen islamistischen Terroranschlag. Das war der Grund für ihn zu sagen: Jetzt ist eine rote Linie überschritten, jetzt führen wir mit allen Mitteln einen Krieg gegen Terror. So sieht er das.
Rabhansl: So nennt er das. Die Folge sind Umerziehungslager für Millionen von Uiguren, in die man auch schon geraten kann, wenn man beispielsweise zu oft tankt, weil man dann angeblich Benzin für Anschläge abzweigt, oder wenn man auf dem Handy WhatsApp installiert hat. Das sind ja wirklich krasse Menschenrechtsverletzungen, die Sie da beschreiben. Ich wundere mich teilweise ein bisschen über die Formulierungen, die Sie dafür finden, wenn Sie zum Beispiel schreiben, er würde die Bevölkerung seines Landes gängeln. Ist das nicht ein etwas schwaches Wort für das, was da passiert?
Geiges: Ich weiß jetzt nicht, auf welchen Satz Sie sich beziehen. Das müsste man im Kontext sehen. Grundsätzlich kann man sagen und das gilt sowohl für Stefan Aust als auch für mich: Wr verstehen uns nicht als Aktivisten, wir verstehen uns als Journalisten. Wir wollen im Sinne von Rudolf Augstein schreiben, was ist. Deswegen schreiben wir auch ganz zu Beginn des Buches: Wir wollen kein Buch für oder gegen Xi Jinping schreiben, kein Buch für oder gegen das derzeitige China. Wir wollen es darstellen, wie es ist – und die Leserinnen und Leser sollen sich selbst ein Urteil bilden.

Furcht vor einem "chinesischen Syrien"

Rabhansl: Sind Menschenrechtsverletzungen denn etwas, das man so oder so sehen kann?
Geiges: Darum geht es nicht. Es geht darum, die Fakten darzustellen und den Leuten die Möglichkeit zu geben, aufgrund der Fakten sich ein Urteil zu bilden. Nehmen wir konkret das Kapitel über die Uiguren. Wir stellen ja ohne Wenn und Aber die Grausamkeiten dar. Aber wir stellen auch dar, was die offizielle Position von Xi Jinping und der chinesischen Führung ist, die übrigens von den meisten Chinesen geteilt wird – das muss man auch ehrlich sagen. Gut, dann kann man sagen: Weil sie auch keine anderen Informationen haben.
Aber trotzdem denken wir: Es gehört zu einem vollständigen Bild dazu, dass wir sagen: Xi Jinping und die chinesische Führung betreiben diese Politik, weil sie denken: Das liegt ja an der Grenze zu Afghanistan, das liegt an der Grenze zur Kaschmir-Provinz, die in Indien umkämpft ist. Die fürchten, dass diese Konflikte rüberkommen und dass quasi – das ist eine wörtliche Formulierung aus der chinesischen Presse – ein chinesisches Syrien entstehen könnte. Das erwähnen wir auch, das ist ja keine Rechtfertigung. Aber ich denke, es gehört zu einem vollständigen Bild dazu: zu erzählen, wie die chinesische Führung das sieht.
Rabhansl: Das betonen Sie in dem Buch auch immer sehr klar, wie wichtig Ihnen das ist, das einfach sachlich darzustellen. Trotzdem: Im letzten Kapitel gehen Sie dann sogar so weit, zu schreiben, der Präsident Xi sei auch deswegen der mächtigste Mann der Welt, weil er "ein weitgehend einiges Land anführt". Die Zustimmung in der Bevölkerung sei weitaus größer als in den USA für Biden oder zuvor für Trump. Da habe ich mich schon gefragt: Woher kennen Sie denn die Mehrheitsmeinung in einem Land, in dem es keine Meinungsfreiheit und keine Wahlen gibt. Wenn einmal gewählt werden durfte, entstanden immer gleich Demokratiebestrebungen, die dann niedergeschlagen worden sind.
Geiges: Das ist ja völlig richtig, dass Sie sagen, warum es diese Einheitlichkeit gibt. Aber es ist ja trotzdem eine Tatsachenfeststellung, dass er ein geschlossenes Land hat, weil er eben die Macht hat, durchzuregieren.

Viel unterwegs und viele Kontakte

Rabhansl: Aber woher wissen Sie, dass die Zustimmung so groß ist, wenn die Zustimmung ja nie gemessen wird, weil es gar keine Meinungsfreiheit gibt?
Geiges: Weil wir ja wirklich sehr viel in China unterwegs sind und sehr viele Kontakte dort haben. Es gibt kritische Meinungen zu ihm, gerade unter Journalistenkollegen. Aber die große Mehrheit der normalen Chinesen, mit denen wir sprachen, finden das schon alles gut. Die sagen: Na ja, das ist doch jetzt mal ein starker Mann, der die Interessen der Chinesen auf der Weltbühne durchsetzt. Die finden auch seine Frau gut, die als erste First Lady in China in diesem Maße als Sympathieträgerin auftritt. Die finden seine Kampagne gegen Korruption gut.
Natürlich haben Sie völlig recht, das schreiben wir auch in dem Buch: Es gibt natürlich keine Meinungsfreiheit in China und zwar nicht nur nicht in den traditionellen Medien, sondern auch im Internet nicht. Das schreiben wir auch, wie massiv das Internet zensiert wird. Aber trotzdem ist es eine Tatsache, dass eine große Mehrheit von Chinesen im Moment so denkt.
Rabhansl: Das leiten Sie also aus Ihren Gesprächen mit der Bevölkerung dort ab. Am Ende dieser langen Recherche und am Ende dieses Buches, in dem Sie betonen, die Sachen so darstellen zu wollen, dass wir uns selber eine Meinung bilden können, ihre eigene Meinung: Überwiegt die Faszination oder die Sorge?
Geiges: Für mich persönlich die Sorge, ich bin ja ein sehr freiheitsliebender Mensch. Es gibt weltweit ja auch gerade aktuell die Debatte "wie viel Freiheit, wie viel Sicherheit?". Wenn man rein nach dem Aspekt Sicherheit und technologischer Fortschritt geht, dann kann man dem chinesischen Modell viel abgewinnen. Das kann ich auch verstehen, wenn Leute das unter diesem Aspekt gut finden. Aber für mich persönlich überwiegt: Ich habe gerne meine Freiheit. Ich möchte gerne frei reisen. Ich möchte gerne frei meine Meinung äußern, mich frei informieren können. Von daher ist das für mich besorgniserregend, was in China passiert, und auch besorgniserregend, dass andere Länder sich das zumindest zum Teil als Beispiel nehmen könnten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Stefan Aust, Adrian Geiges: "Xi Jinping - der mächtigste Mann der Welt"
Piper Verlag, München 2021
288 Seiten, 22 Euro

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