Statt deutscher Nabelschau der Blick von außen

Rezensiert von Alexander Schuller · 22.06.2008
War die Zeit der Besatzung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zeit der Brutalität? Dieser Frage geht der britische Autor Giles MacDonogh in seinem Werk "After the Reich" nach. US-Autor Nicholas Baker blickt zeitlich weiter zurück und beschäftigt sich mit der Zerissenheit des Westens zwischen den beiden Feinbildern Faschismus und Kommunismus.
Giles MacDonogh holt in seinem Buch "After the Reich" weit aus. Ihm geht es um die zentrale Frage europäischer Geschichte: Wer kontrolliert die Mitte Europas - geografisch, politisch, ideologisch? Der Autor macht verständlich, dass und warum die Alliierten nach dem 8. Mai 1945, dem Waffenstillstand, eine so "brutale" Besatzungspolitik praktizierten. Es war der Krieg mit anderen Mitteln, wie Clausewitz sagen würde. MacDonogh begründet, warum das Leid der Deutschen nicht mit dem Zweiten Weltkrieg endete, sondern erst recht begann. Er nennt Zahlen:

"1,8 Millionen Zivilisten getötet, 3,6 Millionen Wohnungen und Wohnhäuser vernichtet, 16,5 Millionen Deutsche aus ihrer Heimat vertrieben, 2,5 Millionen von ihnen während der Flucht ermordet." (S. 1).

Besonders die Mitglieder der Elite, vor allem Intellektuelle und Adlige, wurden gnadenlos ausgemerzt. Nicht der Nationalsozialismus war der Gegner, sondern das Volk.

"Sogar bekannte Gegner der Nationalsozialisten, wie Eberhard von Braunschweig, wurden aus ihren Häusern gezerrt und erschossen." (S. 51).

Massenhafte und fortwährende Vergewaltigungen wurden als wohlüberlegtes Element der Besatzungspolitik eingesetzt. Das galt besonders für die siegreiche Sowjetarmee.

"Vergewaltigungen wurden als Ausdruck von Hass und daher als moralisch wertvoll definiert. Als Rache an den Frauen des Herrenvolkes waren sie ein geeignetes Instrument für dessen Demütigung." (S.26).

Hier muss man an den großen Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt erinnern, der sagte:

"Man sucht den Besiegten möglichst tief vor sich selbst zu erniedrigen, damit er sich künftig nicht einmal mehr etwas Rechtes zutraut.." (S. 16)

Sowohl Giles MacDonoghs "After the Reich" als auch das Buch "Human Smoke" von Nicholas Baker bedrohen die nach dem Krieg gezüchtete ausdifferenzierte politische Identität der Deutschen: "Verfassungspatriotismus", "Wehrhafte Demokratie", "Pazifismus" etc. Akribisch wie Walter Kempowski im Echolot montiert Baker Dokumente: Nachrichten, Briefe, Gesprächsfetzen, Analysen.

Ähnlich wie das Echolot wirkt es vor allem durch seine sprachliche Gelassenheit. Während MacDonogh mit der Niederlage Deutschlands einsetzt, stammt Bakers früheste Quelle schon aus dem Jahre 1892.

Mit seinem dokumentarischen Verfahren kann Baker die oft erratische Suche der Westmächte nach dem besten Feind nachzeichnen. Roosevelt, vor allem aber Churchill betrachteten lange Zeit die Sowjetunion als den Hauptfeind und Hitler und Mussolini als Partner. Im Januar 1927 wendet sich Churchill an die Italiener:

"Wäre ich Italiener, ich hätte ohne Zögern von Anfang an und bis zum siegreichen Ende an Eurer Seite gegen die bestialischen Begierden und Leidenschaften des Leninismus gekämpft." (S. 16).

Damit wird deutlich, dass andere, vor allem Churchill, von einem zweiten Waffengang träumten. Im März 1929 schreibt er:

"Der Tod ist aufmarschiert, gehorsam, erwartungsvoll, bereit zum Dienst, bereit zum Massenmord, bereit, um auf Befehl, alles, den letzten Rest unserer Zivilisation zu zerschmettern. Der Tod erwartet unseren Befehl."

Churchill taumelt zwischen seinem eliminatorischen Hass auf die Deutschen und seiner Furcht vor den Russen. Dabei birgt dieser Hass geradezu prognostische Kraft:

"Tausende Flugzeuge werden ihre Städte in Schutt und Asche legen." (S. 17).

Dass Churchill selbst nie Ideologe war, sondern immer nur Imperialist, zeigt auch seine Verachtung für Gandhi. Er beschreibt ihn in einer Rede als "einen widerwärtigen Rechtsanwalt und Verräter, der sich als eine Art von halbnackter Fakir aufspielt" (S. 23).

Vermutlich hatte Churchill keine Lust über den Unterschied zwischen Hitler und Gandhi, zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus überhaupt nachzudenken. Mal sollten die Kommunisten gegen die Faschisten, dann wieder die Faschisten gegen die Kommunisten in Stellung gebracht werden.

Allesamt waren sie Feinde des Empire, und insofern austauschbar. Das musste genügen. Noch 1938, nach Bücherverbrennung und Arier-Gesetzen, meinte der amerikanische Senator Burke, dass Hitler "dem ganzen Deutschen Volk zum Wohl gedeihe" (S. 211).

Dass die Westmächte sich schließlich für die Koalition mit den Russen und gegen die Deutschen entschieden, ist eigentlich Zufall. Der Vertrag von München, noch im Herbst 1938 geschlossen, war als Bündnis zwischen Frankreich, England und Deutschland gegen Russland gemeint. Die Eliminierung Deutschlands aus dem Kreis weltpolitischer Spieler nach dem Zweiten Weltkrieg schaffte die Voraussetzung für die Entfesselung des sogenannten Kalten Krieges. Man kann diesen also als den Versuch werten, das Churchill-Stalin-Bündnis der Kriegsjahre nachträglich zu revidieren.

Das Leitwort der deutschen Identität nach dem 8. Mai 1945 hieß: aus der Geschichte lernen. Das konnte nur bedeuten: Objekt sein und nie mehr Subjekt. Der Burckhardtsche Satz wird ganz verständlich erst in seiner Umkehrung als: "Wer den Krieg verliert, der verliert auch seine Würde." Das ist uralt, das älteste Gesetz der Geschichte. Die Option war klar: Karthago oder Frankfurt, Vernichtung oder Gehirnwäsche.

Tatsächlich wurde es eine Mischung. Seit der Zerstörung der deutschen Städte und dem Programm der Re-education ist die kulturelle Selbstbestimmung der Deutschen gebrochen. Weder eine deutsche Nabelschau, noch ein deutscher Höhenflug, weder Revolte noch Mimesis sind in der Lage, einen Bezug zur historischen Wirklichkeit herzustellen. Es lohnt sich also zu lesen, was die beiden Ausländer über uns zu sagen haben.

Giles MacDonogh: After the Reich
Basic Books, 2007
Nicholas Baker: Human Smoke
Simon & Schuster, 2008