Stabilität durch Kreativität

23.11.2012
Wer "Von Natur aus kreativ" durchblättert, stellt schnell fest, es ist weder Ratgeber noch wissenschaftliche Abhandlung. Das Buch geht sein Thema selbst kreativ an. Es zerfällt in fünf Teile, die schon vom Druckbild her ganz unterschiedlich aussehen. Auffällig sind die vielen Gedichte hinten im Buch. Sie machen neugierig – und helfen, den mitunter komplexen Anfang durchzustehen.
Der Hirnforscher Ernst Pöppel und die Sexualtherapeutin Beatrice Wagner haben eine eigenwillige Definition von Kreativität. Es geht ihnen nicht um den genialen Künstler, Forscher oder Sportler, nicht um das Außergewöhnliche. Im Gegenteil: "Die biologisch in uns angelegte Kreativität ermöglicht erst und beschleunigt das Finden und das Erhalten unserer Mitte." Liebessehnen, Glück, Abenteuer und andersherum Liebeskummer, Leid und Langeweile bringen den Menschen aus dem Gleichgewicht. Mit Kreativität müssen jeder und jede zu sich zurückfinden. Das klingt ernüchternd.

Erfreulicherweise kümmern sich die beiden Autoren in der Folge kaum um ihre Definition. Wenn sie die Bedingungen der Kreativität beschreiben, dann wollen sie doch überraschenden Einfällen den Weg bereiten. Ihre Hilfestellungen sind mal banal: Immer einen Stift bei sich tragen! Mal sind sie erhellend: Mut gehört untrennbar zur Kreativität. Denn Wirkung kann ein Einfall nur entfalten, wenn er sich der Kritik stellt.

Die einzelnen Hinweise werden mit einer Mischung aus Neurobiologie und Anekdoten begründet und mit Interviews kontrastiert. Die Gesprächspartner hat sich Ernst Pöppel im Freundes- und Kollegenkreis gesucht. Die Psychologin Yan Bao von der Peking University betont: "Wenn man einen kreativen Einfall hat, dann ist es notwendig, nach logischen Regeln zu prüfen, ob der Einfall überhaupt richtig war". Und der Architekten Gunter Henn sieht Kreativität dann am Werke, "wenn eine Idee vom großen bis zum kleinen Maßstab durchgängig erkennbar ist."

Geschrieben in kurzen Kapiteln. Kurzweilig werden die aber erst dann, wenn man sein engstirniges Leservorurteil überwindet und weniger auf systematische Erkenntnis wartet, als dem Hin und Her eines kreativen Geistes zu folgen und seine Skizzen und Einfälle zu genießen.

Am Ende des Buches folgte dann die Belohnung: 30 Seiten intelligente Interpretation von Gedichten. Poeten kennen Bedingungen der Kreativität, die Forscher erst entdecken müssen. Aus ihrem oft lustigen Reimen schälen Ernst Pöppel und Beatrice Wagner Einsichten heraus, die auch dem Blick der Wissenschaft standhalten. Hier lernt man Gedichte mit anderen Augen lesen, für den Spaß und den Verstand. "Von Natur aus Kreativ" fordert den kreativen Leser, der Spaß daran hat, Facetten des Themas unter neuen Blickwinkeln aufleuchten zu sehen. Wer dann doch genauer wissen will, was es mit der Kreativität auf sich hat, der muss sich die Mühe machen und anderswo weitersuchen. Eine ausgiebig (und kreativ) kommentierte Leseliste hilft dabei.

Besprochen von Volkart Wildermuth

Ernst Pöppel / Beatrice Wagner: Von Natur aus kreativ - Die Potentiale des Gehirns entfalten
Carl Hanser Verlag, München 2012
256 Seiten, 18,90 Euro

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Selbstverwirklichung für alle - Andreas Reckwitz: "Die Erfindung der Kreativität", Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 368 Seiten
Dialog von Wissenschaft und Kunst - Eric Kandel: "Das Zeitalter der Erkenntnis", Siedler Verlag, Berlin 2012, 704 Seiten
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