Staatsterror in der Sowjetunion

Als anders zu denken lebensgefährlich war

Perm, Sibirien, das Straf- und Arbeitslager Gulag
Sinnbild des Sowjet-Terrors: ein sibirischer Gulag, 1943. © imago images / Sovfoto / UIG
Von Winfried Roth · 09.04.2022
Willkür, Zwangsarbeit und Millionen Tote: Der Staatsterror in der Sowjetunion währte 30 grausame Jahre. Beim Versuch der Aufarbeitung übernahm die Literatur eine besonders wichtige Rolle.

"Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden.“

Rosa Luxemburg

Die ungefähr 30 Jahre des Staatsterrors in der Sowjetunion gehören zu den grausamsten Ereignissen der modernen Geschichte. Mehrere Millionen Menschen – genaue Zahlen fehlen – wurden zwischen der Oktoberrevolution von 1917 und Stalins Tod 1953 erschossen oder starben bei Zwangsarbeit. Noch weitaus mehr fielen Hungersnöten zum Opfer, für die das Regime verantwortlich war. Andere erlebten Misshandlung, jahre- oder jahrzehntelange Haft, erzwungene Umsiedlung oder berufliche Degradierung.

Ein System unkontrollierter Macht

In den Monaten nach dem "Roten Oktober" bildete sich langsam ein System unkontrollierter Macht heraus – im Gegensatz zum radikaldemokratischen Anspruch der Bolschewiki. Im Januar 1918 lösten sie die verfassunggebende Versammlung gewaltsam auf. Die vermeintliche Übergangsregierung um Lenin und Trotzki etablierte sich als Diktatur. "Roter Terror" im Bürgerkrieg hieß: willkürliche Tötungen und Misshandlungen, Zwangsarbeit und Deportationen. Schon 1917 hatte Lenin bemerkt: "Wie soll eine Revolution ohne Hinrichtungskommandos funktionieren? Welche anderen Formen der Abschreckung stehen uns denn sonst zur Verfügung?“
Die Konflikte zwischen der Parteiführung und der bäuerlichen Bevölkerung schienen Mitte der 20er-Jahre entschärft. Doch Ende der 20er-Jahre folgte eine noch heftigere Auseinandersetzung, die wieder in Terror und einer Hungersnot endete. Das Politbüro war angesichts massiver internationaler Spannungen zu einer raschen Aufrüstung entschlossen. Sie erforderte eine beschleunigte Industrialisierung – die energisch, doch ineffizient in Angriff genommen wurde. Der Aufbau der Industrie wiederum hatte eine Modernisierung der Landwirtschaft zur Voraussetzung, die mit offener Gewalt durchgesetzt wurde.

Stalin behandelt die Menschen wie ein Dompteur

Bis Ende der 20er-Jahre regierten nur noch vier, fünf Politiker um Stalin, der nach Lenins Tod 1924 allmählich zur führenden Persönlichkeit aufstieg. Zuletzt herrschte er allein.
Meist trug Stalin – der Sohn eines Schuhmachers – eine einfache Jacke. Gern zeigte er sich mit Tabakspfeife. Er erschien als verständnisvoller, bescheidener und zugleich genialer, entschlossener Führer. Galina Stange, eine Moskauer Hausfrau, deren Tagebuch erhalten blieb, notierte 1937:
"Ich habe gerade die Rede Stalins gehört, die im Radio übertragen wurde. Er spricht langsam, außerordentlich schlicht, sodass einem jedes Wort ins Bewusstsein dringt."
Portrait von Stalin
Diktator mit vielen Gesichtern: Josef Stalin.© IMAGO/UIG
Der Göttinger Historiker Manfred Hildermeier charakterisiert ihn so: "Er hatte mehrere Gesichter. Ob ihm seine Allgewalt zu Kopf gestiegen ist oder ob er vorher schon eine ähnliche Mentalität hatte, das vermag ich nicht zu sagen – in den 20er-Jahren ist das so nicht deutlich geworden. Er hat sich ein Vergnügen daraus gemacht, seine Umgebung zu terrorisieren, er hat sie wie ein Dompteur behandelt."

Die Propaganda verfängt

Die Propaganda arbeitete während der Terrorwelle der 30er-Jahre durchaus erfolgreich – im Radio, in Wochenschauen und Zeitungen, mit überwältigenden Feiern, Paraden und Ordensverleihungen. Dagegen hielt die Leningrader Puppentheater-Direktorin Ljubow Schaporina 1937 in ihrem Tagebuch fest:
"Es gibt keine Kohle und kein Holz. Um Textilien zu bekommen, muss man eine Nacht, einen Tag und noch eine Nacht Schlange stehen. Und die Zeitungen schrieben begeistert über unser wohlhabendes und glückliches Leben."
Die Propaganda versicherte, dass die Verschwörer nicht nur auf die Elite zielten, sondern auch auf die breite Bevölkerung. Im Dienst ausländischer Mächte, so hieß es, organisierten sie Sabotageakte in Fabriken, in Kliniken oder an Eisenbahnlinien. Ein gemeinsames Bedrohungsgefühl sollte entstehen.
Eine zentrale Rolle für die Propaganda spielten die wenigen öffentlichen Prozesse gegen angebliche Verschwörer. Sie waren so geschickt inszeniert, dass das Publikum die Geständnisse häufig für glaubwürdig hielt. Nicht nur sowjetische Intellektuelle wie Maxim Gorki und Ilja Ehrenburg hießen den Terror gut.
Sogar konservative und liberale Beobachter aus dem Ausland hielten die Schauprozesse für "fair" – unter ihnen der deutsche Exilschriftsteller Lion Feuchtwanger und der US-Botschafter Joseph Davies. In seinem Buch "Moskau 1937" schrieb Feuchtwanger:
"Auch mir schien die Anklage im Sinowjew-Prozess unglaubwürdig, die hysterischen Geständnisse der Angeklagten schienen mir durch geheimnisvolle Mittel erpresst, die ganze Verhandlung kam mir wie ein mit vollendeter, befremdlicher Kunst inszeniertes Theaterstück vor. Als ich indes dem zweiten Prozess beiwohnte, wo ich Pjatakow und andere sah, vergingen meine Bedenken wie Salz im Wasser. Wenn das gelogen war oder arrangiert, dann weiß ich nicht, was Wahrheit ist."

Bücher als Gegenwelt

In der Zeit des Schreckens ging der Alltag weiter. Viele Menschen konzentrierten sich auf Beruf und Familie. Sie versuchten, sich an Schönes in ihrem Leben zu erinnern, sie schufen sich eine Gegenwelt aus Büchern, Theatervorstellungen oder Konzerten. Auch Fantastisches und Komisches wurden manchmal zu "Strategien der Bewältigung".
Der Schriftsteller Konstantin Paustowski überlebte die Bürgerkriegsjahre als junger Journalist. Sein autobiografisches Buch "Die Zeit der großen Erwartungen" erzählt von Odessa 1920, vom politischen Chaos, von Hunger und Kriminalität – aber nicht nur davon. Eine halb verhungerte junge Frau bringt vor ihrem Tod noch die Kraft zu einer "kleinen Flucht" auf:
"Irgendwo hatte Wolodja ein Stück alte Glyzerinseife aufgetrieben und schenkte es Rachil. (…) 'Tun Sie mir bitte einen Gefallen', bat Rachil leise. 'Gießen Sie auf die Untertasse da drüben ein wenig Wasser und bringen sie es mit der Seife zum Schäumen. Auf der Kommode steht ein trockener Strauß. Suchen Sie einen Strohhalm heraus und geben sie mir alles.'
Ich tat es. Sie tauchte den Strohhalm ins Seifenwasser und blies langsam eine große Seifenblase auf – sie riss sich vom Strohhalm los, schwebte nach oben, stand in der Luft, in einem staubigen Sonnenstrahl, und spielte in den Regenbogenfarben. Rachil ließ eine zweite, dann eine dritte und vierte Seifenblase aufsteigen. Es dauerte nicht lange, bis das ganze Zimmer von ihrem flüchtigen Schimmer erfüllt war."

Lange Zeit keine Aufarbeitung der Verbrechen

Stalins Tod 1953 folgte der Verzicht auf Massenterror – die Diktatur aber blieb bestehen. Ansätze zu einer Aufarbeitung der Verbrechen der Stalin-Zeit versandeten. Kritik und demokratische Kontrolle waren in der Sowjetgesellschaft erloschen.
Nach dem Ende des Staatsterrors Anfang der 50er-Jahre, in der sogenannten Tauwetter-Ära, kam es nicht zu einer wirklichen Aufarbeitung des Geschehens. Die Verbrechen wurden unter Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow benannt, viele Opfer rehabilitiert – aber die Dimensionen des Terrors blieben unklar.
Zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit der verdrängten oder beschönigten Vergangenheit kam es erst in den Jahren von Gorbatschows "Perestroika". Welche Folgen hatte der Terror für die Stabilität von Stalins Regime, was erreichte die massive Propaganda, wie veränderte sich die Mentalität der Bevölkerung?
Michail Sergejewitsch Gorbatschow auf einer Pressekonferenz
Vater der Perestroika: Michail Sergejewitsch Gorbatschow.© imago images / Dennis Brack
Am Ende stand der Bankrott des "sowjetischen Modells". 1991/92 zerfiel die Sowjetunion in 15 Staaten. Neue Regierungsformen - demokratische, halbdemokratische oder autoritäre – setzten sich durch, Abertausende maßgebliche Marxisten-Leninisten verwandelten sich ohne zu zögern in entschiedene Kapitalisten.
Michail Gorbatschows Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution am 2. November 1987 bedeutete eine Wende in der sowjetischen Geschichtspolitik. Erst ab Mitte der Achtzigerjahre, mit Gorbatschows "Perestrojka" – einer grundlegenden "Umgestaltung" der sowjetischen Gesellschaft – wurden Archive geöffnet, Massengräber freigelegt, Überlebende kamen zu Wort.

Literatur versucht eine Aufarbeitung des Terrors

Offener als Partei und Regierung versuchte die damalige „Tauwetterliteratur“ eine Aufarbeitung des Terrors. Zu ihr zählten Autoren wie Wassilij Grossman, Jewgenij Jewtuschenko und Aleksandr Solschenizyn. Dieser konnte 1962 seine Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ veröffentlichen, die aber zurückhaltender ausfiel als seine späteren – verbotenen – Bücher. Das Publikum musste immer zwischen den Zeilen lesen.
Michail Bulgakow schrieb den Roman "Der Meister und Margarita" in der Zeit der Kollektivierung und der großen Säuberungen – erst Jahrzehnte später konnten Teile des Textes veröffentlicht werden. Bulgakow erzählt auf fantastische oder satirische Weise vom Moskauer Alltag einschließlich Bürokratie und Überwachung in den – vergleichsweise – ungefährlichen 20er-Jahren. Er bringt auch Magie ins Spiel und entwirft eine irritierende alternative Entstehungsgeschichte des Christentums. Vielleicht versuchte Bulgakow, in einer Traumwelt den Schrecken ringsum zu vergessen?
Mitte der 60er-Jahre setzte schon wieder ein Gegentrend zur begonnenen Aufarbeitung ein. Nicht selten wurde die Stalin-Ära verharmlost, verklärt – der Staatskriminelle verschwand gleichsam hinter dem Sieger von 1945.

Unter Putin wird Erinnerungsarbeit erschwert

„Memorial" hat in Russland, aber auch im Ausland einen besonderen Stellenwert. Die gleichnamige Organisation beziehungsweise "geschichtsaufklärerische Gesellschaft", wie sie zunächst hieß, entstand Ende der 1980er-Jahre in Moskau. Zum ersten Vorsitzenden wurde 1989 der berühmte Dissident und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow gewählt. Die Hauptaufgabe des "Memorial" ist die Erinnerung an die dunklen Seiten der sowjetischen Geschichte, insbesondere an die Opfer des Stalinismus.
In der Ära Putin kam es ständig zu Konflikten zwischen dem Staat und „Memorial“. Ein Gesetz über sogenannte ausländische Agenten – zu denen die Organisation gerechnet wurde – erschwerte ihre Arbeit. Im Dezember 2021 wurde „Memorial“ schließlich verboten. Ende Februar 2022 – während russische Panzer in die Ukraine vorstießen – bestätigte das höchste russische Gericht das Verbot. Wie es weitergeht, ist ungewiss. Aber sicher lassen sich angesichts der dramatischen Entwicklungen in der Gegenwart nicht alle kritischen Stimmen zum Schweigen bringen.
Das Skript zur Sendung finden Sie hier.

Literatur:
Garros, Veronique, Natalija Korenewskaja und Thomas Lahusen: Das wahre Leben – Tagebücher aus der Stalinzeit, Übers. von Barbara Conrad und Vera Stutz-Bischitzky, Rowohlt Verlag, 1998
Bulgakow: Der Meister und Margarita, Galiani Berlin, 2012
Scholochows,Michail: "Der Stille Don", dtv, vier Bde., 1928 – 1940
Wesjolijs,Artjom: "Blut und Feuer", Aufbauverlag, 2017
Konstantin Paustowskij "Die Zeit der großen Erwartungen", Fischer Verlag, 1960
Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion. 1917 – 1991, C.H. Beck, 1998

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