Corona weltweit: Tunesien

Düsterer Ausblick trotz mehr Freiheit

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Die Vorbereitungen für die Wiedereröffnung des internationalen Flughafens werden im Rahmen des Normalisierungsprozesses am 2. Juni 2020 in Tunis, Tunesien, fortgesetzt.
Mehr Bewegungsfreiheit gibt es auch wieder am Flughafen Tunis. © picture alliance / dpa / Yassine Gaidi
Zusammengestellt von Anne Françoise Weber · 03.06.2020
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Die Bürgerrechtsaktivistin Henda Chennaoui erzählt, wie sich die Tunesier nach der Ausgangssperre über die wiedergewonnene Freiheit freuen. Doch die Zukunft erscheint als Berg von Problemen, den Menschen fehlt es oft an grundlegenden Dingen.
"Guten Tag, ich heiße Henda Chennaoui und ich bin Journalistin und Aktivistin hier in Tunis. Nach fast sieben Wochen mit völliger Ausgangssperre in ganz Tunesien werden seit zwei Wochen die Regelungen langsam gelockert. Die Leute sind froh, ihr normales Leben wieder aufzunehmen. Am 8. Juni machen die Universitäten wieder auf, die Studierenden werden drei Wochen lernen, um dann im Sommer ihre Examen zu machen.

Junge Leute treffen sich im Park

Wenn ich jetzt durch die Straßen gehe, ist der Verkehr ganz normal, die Leute sind im Auto oder zu Fuß unterwegs. Cafés und Restaurants sind aber noch geschlossen, nur manche bieten Kaffee, Sandwiches oder Pizza zum Mitnehmen an. Vor meinem Haus gibt es einen Park, wo sich junge Leute versammeln, reden und spielen - sie möchten so bald wie möglich wieder in die Bars und Cafés von La Goulette, La Marsa oder Tunis gehen.
Die Regierung hat entschieden, dass Hochzeiten und andere Feiern mit maximal 30 Gästen erlaubt sind. Das ist sehr schwer für die Tunesier, die ihre Hochzeit ganz traditionell mit der Großfamilie feiern. Kulturveranstaltungen sind noch nicht wirklich möglich, Theater und Kinos dürfen nur die Hälfte des Publikums einlassen und im Sommer wird es wohl keine Festivals geben. Das wird sehr hart besonders für die Künstler, die im Sommer ihren ganzen Lebensunterhalt verdienen.
Die tunesische Bürgerrechtsaktivistin Henda Chennaoui
Die Bürgerrechtsaktivistin Henda Chennaoui spricht über die Coronazeit in Tunesien.© Deutschlandradio / Anne Françoise Weber
Insgesamt wurde die Aufhebung der Ausgangssperre von den Tunesiern wirklich gefeiert - sie sind froh, sich wieder frei bewegen und andere treffen zu können. Und auch dem familiären Druck zu entkommen, dem Eingeschlossensein mit Vater, Mutter, Cousin oder Bruder und der verschärften Überwachung während der Ausgangssperre.

Deutlich mehr Gewalt gegen Frauen

Ich fand es in dieser Zeit eine Herausforderung, an die Frauen zu denken, die gezwungen sind, mit ihrem Vergewaltiger zuhause zu bleiben, mit ihrem Ehemann, Bruder oder Vater, die ihnen täglich Gewalt antun. Während der Ausgangssperre wurde in Medien und sozialen Netzwerken viel darüber gesprochen - die Zahlen waren wirklich furchtbar: Sieben mal mehr Frauen wurden geschlagen. Ich hoffe, dass jetzt die Kämpfe für die Freiheit und die Rechte der Frauen weitergehen.
Mit der Lockerung der Ausgangssperre begann ein wichtiges Gerichtsverfahren – neun Jahre nach der Revolution gibt es noch Prozesse gegen die Gewissensfreiheit. Das Opfer war diesmal eine junge Frau, die auf Facebook eine angebliche Sure geteilt hat – ein Gedicht, das an eine Koransure erinnert und das von Corona handelt.
Ich musste lachen, als ich es las, aber andere fanden das einen Skandal und haben Anzeige gegen die 21-jährige erstattet. Der Prozess hat nun begonnen, er wurde aber erstmal vertagt, weil das eine komplexe politische Angelegenheit ist. Ich glaube, der Weg ist noch weit, bis wir einen ganz säkularen Staat haben, der die Gewissens- und Meinungsfreiheit respektiert.

Keine Bildung, kein Wasser, keine Arbeit

Das Land leidet schon seit Jahren unter einer Wirtschaftskrise, sie hat sich mit der Ausgangssperre verschärft. Mehrere Branchen sind zusammengebrochen. Das wird wohl die Debatte der kommenden Monate sein – der Politiker, aber auch der normalen Tunesier.
Sicherlich werden in verschiedenen Regionen soziale Bewegungen entstehen, denn den Menschen fehlt das Grundlegendste: Bildung, Zugang zu Wasser, eine brauchbare Infrastruktur, Arbeit. Wir warten jetzt, welche Maßnahmen die Regierung gegen diese außergewöhnliche Krise ergreifen wird, die sich für Ende 2020, Anfang 2021 abzeichnet."
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