St. Galler Corona-Bibel

Gemeinschaftswerk im Lockdown

08:42 Minuten
Ein kunstvoll verzierter Psalmanfang für die St. Galler Corona-Bibel.
Gottes Wort in Schönschrift: der kunstvoll verzierte Anfang eines Psalms für die Corona-Bibel. © St Galler Corona-Bibel Initiative
Von Susanne von Schenck · 24.01.2021
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In Zeiten verstärkter Digitalisierung haben rund 1000 Menschen die Bibel noch einmal abgeschrieben – von Hand. Die Idee entstand im ersten Corona-Lockdown, nun ist das Werk fast fertig. Den Initiatoren ging es dabei nicht nur um Zeitvertreib.
Michèle Thaler liest vor: "Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, tritt auf deine Füße, so will ich mit dir reden. Und als er so mit mir redete, kam Leben in mich und stellte mich auf meine Füße. Und ich hörte dem zu, der mit mir redete." Der Name Ezechiel bedeute übersetzt "Gott möge kräftigen", sagt Thaler. "Und für die Coronazeit hat mich das sehr berührt und zeigt mir das Bild von diesem Propheten."
Michèle Thaler, 59-jährige Künstlerin aus St. Gallen, hat eines der Deckblätter der "Corona-Bibel" gestaltet: ein Paar alte Wanderstiefel auf einer grün schraffierten Ebene, im Hintergrund eine Wasserfläche, im Vordergrund die obige Passage.

Ein ruhiges Titelblatt für ein verwirrendes Buch

Das Buch des Propheten Ezechiel aus der hebräischen Bibel war mit seinen verwirrenden Visionen eine Herausforderung für die Künstlerin:
"Dann kamen so Bilder, die mir wie psychotisch vorgekommen sind, und da habe ich mich sehr gesträubt dagegen. Dann begann ich, Modelle zu bauen, was der überhaupt meint mit diesen Visionen und spürte für mich, das geht nicht auf. Und dann dachte ich: Ganz einfach werden, und dann habe ich ein paar alte Wanderschuhe von meinem verstorbenen Vater abgezeichnet. Das hatte mit Gehen zu tun und meinem Leben."
Fast tausend Menschen haben im vergangenen Jahr je ein Kapitel aus der Bibel abgeschrieben oder gestaltet. Nun ist das Werk so gut wie fertig: 1189 Kapitel in sieben großen Bänden, die Einbände wurden von Künstlern gestaltet.
Initiator der Corona-Bibel ist Uwe Habenicht. Der reformierte Pfarrer stammt aus Niedersachsen und arbeitete lange in der italienischen Lombardei. Vor dreieinhalb Jahren übernahm er eine Gemeinde in St. Gallen. Seine Idee, durch ein gemeinsames Schreibprojekt die Menschen aus der drohenden Corona-Vereinzelung herauszuholen, entstand kurz vor dem ersten Lockdown im März 2020.

Das Weltkulturerbe von St. Gallen bereichert

Habenicht wandte sich damit an den St. Galler Stiftsbibliothekar Cornel Dora. Der fand: "Die Bibel ist das erste Buch, das im Kloster abgeschrieben wurde, schon im Frühmittelalter, und es wurde jetzt wieder abgeschrieben in einer sehr speziellen Situation – und natürlich gehört das in unsere Sammlung."
Dora, der über das Weltkulturerbe der St. Galler Stiftsbibliothek wacht, erkannte gleich: Die Grundidee des Projekts – der einzelne Mensch als Teil von etwas Großem –, das könnte eine Strahlkraft über die Region hinaus entfalten und die Tradition der alten Bibelhandschriften ins 21. Jahrhundert fortsetzen.
Porträt von Pfarrer Uwe Habenicht in hellblauem Hemd und hellgrauem Jackett.
"Wir haben einfach angefangen": Pfarrer Uwe Habenicht, der Initiator der Aktion.© Reformierte Kirchgemeinde Straubenzell / Elke Hegemamm
Dass seine Idee eine solche Wirkung entwickeln könnte, hätte Uwe Habenicht nicht gedacht. "Wir haben einfach angefangen, und wir wussten nicht, wo wir rauskommen würden", erinnert er sich. "Wir hatten kein Geld, wir hatten keinen genauen Plan, wie das überhaupt gehen soll, sondern wir haben einfach angefangen."

Auch Mundart war erlaubt

Habenicht findet Unterstützung bei Roman Rieger, dem Leiter der katholischen Cityseelsorge. Der meint auch, dass trotz des Lockdowns so etwas wie Gemeinschaft entstehen könnte – sogar auf ökumenischer Ebene.
"Hier die Erfahrung zu machen, dass ganz tiefe religiöse Erfahrungen und religiöse Prozesse angestoßen oder unterstützt wurden in diesem Projekt, das ist wichtig für uns als Kirche zu lernen. Den Menschen zuzutrauen, sie machen religiöse Wege, unabhängig davon, dass ich alles im Griff habe oder die Deutung habe. Wir haben gesagt: Sie dürfen auch in ihre Mundart übersetzen, es gab natürlich auch Schreibfehler, nicht jede Seite ist perfekt. Und doch glaube ich, es ist religiöses Wachstum geschehen durch dieses Projekt, ohne dass wir sagen, wir haben das gemacht. Die Menschen sind da auf dem Weg. Das ist eine Kraft, die den Mitschreibenden Sinn und Halt gegeben hat."

Abschreiben als Form der Meditation

Nach fünf Wochen ist das Projekt auf dem Weg, Erklärvideos werden online geschaltet, per Doodle können Interessierte sich für ein Kapitel eintragen. Die Gestaltung der Seiten ist jedem freigestellt. Einzige Auflage: Der biblische Text muss per Hand geschrieben werden. Das sei, so Stiftsbibliothekar Dora, eine Form der Meditation:
"Die Bibel schreiben speziell ist Gottesdienst, das ist gut für das Seelenheil, und es ist gleichzeitig meditativ. Es hat auch eine Bewegung unterstützt, dass die Menschen wieder stärker zu sich selber finden sollen. Das ist wahrscheinlich auch die beste Lehre, die wir aus dieser ganzen Geschichte ziehen können, dass wir wieder verstärkt verstehen wollen, was wir Menschen eigentlich sind."
Die aufgeschlagene Doppelseite eines Buches enthält handschriftliche biblische Texte, die von Ornamenten verziert sind, darunter stilisierte Vögel und der von Blumen umrankte rote Buchstabe K zu Beginn eines Kapitels aus dem "2. Buch der Könige".
Die Hand liest mit: Beim Abschreiben kamen manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer den biblischen Texten ganz nah.© St Galler Corona-Bibel Initiative
Einige Schriften sind kraklig-kindlich, andere schwungvoll und dynamisch, oft ranken sich Pflanzenzeichnungen an den Seitenrändern empor, manche haben Tauben und andere Tiere gemalt, Regenbogen, Kronen – und zuweilen auch Coronaviren. Wer wollte, konnte seinen Text kommentieren.

Manche finden hier gelebte Kirche

Monika Wagner hat das nicht gemacht. Die Religionslehrerin und Mutter zweier Kinder lebt in einem kleinen Ort im Kanton St. Gallen. Sie hat ein Kapitel aus dem Lukas-Evangelium abgeschrieben, zweispaltig, in Blockschrift und mit Zierbuchstaben. Begeistert von dem Projekt half sie ehrenamtlich mit, die eingehenden Texte zu sortieren.
"Ich glaube, es hat die Grenzen gesprengt, von der Kultur, die verschiedenen Religionen, die verschiedenen Länder", sagt Wagner. "Es haben Flüchtlinge mitgewirkt. Das war einfach großartig. Für mich ist das wirklich gelebte Kirche, es ist eine große Gemeinschaft, ein großes Gemeinschaftswerk."
Die Doppelseite eines aufgeschlagenen Buches zeigt auf der rechten Seite eine zusammengekauerte menschliche Gestalt, die sich die Hand vor die Stirn hält, über ihrem Kopf steht, zur Eröffnung eines neuen Kapitels: "Das Buch Hiob",auf der linken Seite steht handschriftlich in geschwungenen Großbuchstaben u.a. die Widmung: "Was beim Schreiben viele erlebten, möge es beim Lesen, Eintauchen und Meditieren immer wieder staunend gemurmelt werden - Ja - dein Wort - ein Licht - auf unseren Wegen". 
Einladung zum Staunen: Die "Corona-Bibel" enthält viele Illustrationen in den unterschiedlichsten Stilrichtungen.© St. Galler Corona-Bibel Initiative
Diese Erfahrung teilt auch die Künstlerin Michèle Thaler. Mit der Religion hadert sie zuweilen und fühlt sich eingeengt. Im vergangenen Jahr, während der Beschäftigung mit der "Corona-Bibel", konvertierte die Katholikin zur evangelisch-reformierten Kirche. Sie beschreibt sich so:
"Ich bin jetzt nicht eine praktizierende, extrem gläubige Frau, im Gegenteil, ich bin sehr oft am Zweifeln. Aber ich merke jetzt: Durch dieses Projekt beginne ich, offen zu werden für die Themen der Bibel."

Der alte Text befreit aus der Gegenwart

In der Bibel geht es auch um Krisen und deren Bewältigung. Das Buch der Bücher, sagt Uwe Habenicht, sei ja nicht vom Himmel gefallen, sondern von vielen unterschiedlichen Menschen verfasst worden. Der Theologe, der für einen freieren Umgang mit Spiritualität, für eine "Freestyle-Religion", eintritt, geht von der religiösen Autonomie des Einzelnen aus:
"Von Anfang an hatten wir als Slogan 'Schreiben befreit', und ich glaube, diese Befreiung, aus der Gegenwart rauszukommen und sich mit etwas Altem zu beschäftigen und sich in dem Alten selber noch mal spiegeln zu können, diese Erfahrung haben viele gemacht. Und das ist eine echte Freestyle-Erfahrung, weil sie ohne Geländer war, ein sehr loser Rahmen."
Die St. Galler Corona-Bibel hat bereits Nachahmer gefunden: In den USA entsteht ein ähnliches Projekt, eine zweibändige französische Ausgabe ist schon fertig, und im österreichischen Vorarlberg werden derzeit alle Psalmen per Hand abgeschrieben. Gut möglich, dass weitere Gemeinden folgen werden – vielleicht auch über die Pandemie und ihre Kontaktbeschränkungen hinaus.
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