Uwe Habenicht über Glauben

"Spiritualität muss zum eigenen Leben passen"

14:01 Minuten
Eine leere Kirche beherbergt eine bunte Skaterbahn. Das Licht fällt durch die Kirchenfenster auf den Skater.
Ein Kollektiv unterhält einen Skate-Park in einer verlassenen Kirche in dem nordspanischen Dorf Llanera. Die 1912 erbaute Kirche war einst eine Kapelle für Arbeiter einer Munitionsfabrik. © Getty Images/ David Ramos
Uwe Habenicht im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 31.05.2020
Audio herunterladen
Der evangelische Pfarrer Uwe Habenicht steht für eine weltzugewandte Spiritualität. Die Kirchen müssten offener, freundlicher und milder auf die Zeitgenossen blicken, sagt der Autor des Buches "Freestyle Religion".
Anne Françoise Weber: In manchen Parks oder auf eigens gebauten Bahnen sieht man sie jetzt wieder trainieren. Vor allem junge Leute sind es, die da immer und immer wieder mit ihrem Skateboard oder mit dem BMX-Rad eine Figur bis zur Perfektion üben. Ihre Performance stellen sie dann aus verschiedenen solcher Elemente individuell zusammen. Freestyle nennt sich das, und es gibt ihn auch beim Skifahren, im Jazz oder im Rap.

Leicht und schwungvoll wie ein Parcours-Training

Dieser Freistil scheint ja ganz gut zu passen zu unserer Gesellschaft mit dieser starken Betonung von Freiheit und Individualität – aber was heißt das nun für die Religion? Der evangelische Pfarrer Uwe Habenicht hat vor Kurzem ein Buch veröffentlicht, in dem er für eine Freestyle Religion plädiert – Untertitel: "Eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt – eine Spiritualität für das 21. Jahrhundert". Ich bin jetzt mit ihm verbunden. Herr Habenicht, eine Ihrer Inspirationsquellen scheint ja tatsächlich das Sporttraining Ihrer Kinder gewesen zu sein. Warum?
Uwe Habenicht: Ja, es ist genau so, dass ich viele, viele Jahre lang abends in Turnhallen gesessen habe und meinen Kindern beim Parcours-Training zugeschaut habe. Wenn man über Religion professionell nachdenkt, wie ich als Pfarrer, dann kommen einem natürlich so Gedanken, wenn man sieht, wie Kinder und Jugendliche und zum Teil ja auch Erwachsene sehr lange und sehr konzentriert an einzelnen Figuren arbeiten.
Und wenn man dann sieht, was da rauskommt, dann denkt man sich, so müsste doch Religion sein – leicht und mit Schwung, eigensinnig und zugleich eine Gruppe, die miteinander trainiert. Das war eine meiner Inspirationsquellen.

Kirchen müssen milder werden

Weber: Religionssoziologen und -soziologinnen sprechen ja gerne von einer Bastelreligion, also wenn Menschen sich zum Beispiel ihre Spiritualität aus so ein bisschen geistlicher Musik von Johann Sebastian Bach zusammenbasteln, aus den 99 Gottesnamen im Islam, dann noch ein paar Yogaelemente dazu und vielleicht noch einen kleinen hinduistisch inspirierten Hausaltar. Konservative Religionsvertreter schreien dann natürlich gleich, das sei verwerflicher Synkretismus. Wo ist da jetzt Ihre Freestyle Religion zu verorten?
Habenicht: Also erst mal glaube ich, dass es wahnsinnig wichtig ist, dass wir als Kirchen viel offener, viel freundlicher und vor allem viel milder auf unsere Zeitgenossinnen und Zeitgenossen blicken. Bastelreligion, das hört sich wahnsinnig negativ an, und man sieht, wenn man das so bezeichnet, nicht die Not, die dahintersteht.
Mein Buch versucht ja klarzumachen: Menschen fangen an, sich selber eine Spiritualität zu gestalten, weil Spiritualität zum eigenen Leben passen muss. Das, was die Kirchen anbieten in großen Teilen, passt offenbar nicht zu dem, was Menschen brauchen. Von daher liegt mir sehr daran zu verstehen: Was brauchen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, um wirklich eine Religion zu haben, die tragfähig ist, die Belastungen aushält? Von daher bin ich jemand, der mit sehr offenen Augen versucht, Menschen zuzuschauen bei dem, was sie tun und zu sagen: Wir müssen als Kirchen uns in diese Richtung bewegen, weniger dogmatisch, weniger festgelegt und einfach viel offener sein.
Weber: Aber Sie sagen es ja trotzdem als evangelischer Pfarrer. Also wenn Sie jetzt als Pfarrer oder als Kirche jemanden begleiten bei seiner Suche, müssen Sie dann doch irgendwann sagen: Moment, aber hier steht jetzt nicht mehr Christus im Zentrum, das können wir eigentlich als christliche Kirche nicht mit unseren Grundsätzen vereinbaren? Oder sind Sie offen für alles auf die Gefahr hin, dass da tatsächlich ein Glaubenskern möglicherweise verlorengeht?
Habenicht: Ich glaube, dass weniger verlorengeht und dass mehr zu gewinnen ist. Ich glaube, dass wir als Kirchen viel mehr darauf schauen müssen, was können wir den Menschen mitgeben, das sie wirklich gebrauchen können, und ihnen dann auch die Freiheit zu lassen, es so zu gebrauchen, wie es für sie gut ist. Ich muss ja nicht darüber entscheiden, ob dies oder jenes richtig oder falsch ist, sondern ich bin als Kirchenvertreter dafür da, dass ich Menschen etwas von dem zeige, wovon ich glaube, dass es tragfähig ist. Und dann dürfen die Menschen ganz frei damit umgehen und dürfen es ganz frei verwenden. Ich glaube, diese Weite, die brauchen wir aufs Neue.

Mit Bäumen sprechen kann nicht alles sein

Weber: Drei Bereiche soll die Freestyle Religion verknüpfen oder vielleicht wieder neu in ein Fließen bringen, das Mystisch-Kontemplative, das Liturgisch-Kultische und das Ethisch-Gestaltende, schreiben Sie. Das sind aber nun ja Elemente, die im Grunde wahrscheinlich zu jeder Religion gehören und die Gläubige sich auch immer irgendwie geholt und irgendwie kombiniert haben. Also ist das tatsächlich so neu, diese Freestyle Religion, oder ist das nicht einfach Glaubenspraxis, dass ich Liturgie habe, dass ich Gebet habe im stillen Kämmerlein und dass ich mich in meinen ethischen Werten natürlich auch meiner Religion irgendwie verbunden fühle?
Habenicht: Ich glaube, dass wir einen neuen Blick auf das Ganze brauchen. Ich beschäftige mich ja mit Spiritualität schon länger, und wenn man Menschen zuschaut, wie sie Religiosität oder Spiritualität leben, dann fallen mir unglaubliche kleine Elemente auf, die aber irgendwie kein Ganzes geben. Also das heißt, ich sehe Menschen, die in einigen Bereichen unglaublich stark sind, auch sehr engagiert sind zum Teil. Ich habe aber den Eindruck, dass das Gleichgewicht nicht stimmt.
Ein lächelnder Mann mit schütterem dunklen Haar steht in der Sonne.
Der Schweizer Pfarrer Uwe Habenicht plädiert für eine "Freestyle Religion".© privat
Mir war es wichtig, noch mal neu zu schauen: Was braucht eigentlich eine Spiritualität heute, damit sie wirklich im Gleichgewicht ist? Ich sage das mal ein bisschen überspitzt: Also das Meditieren in der Natur und das Gespräch mit Bäumen, das halte ich für sinnvoll und das halte ich für gut, aber das kann noch nicht alles sein. Die meisten bleiben irgendwo hängen, und es fehlt mir genau dieser Ausgleich zwischen diesen drei Bereichen. Gerade außerhalb der traditionellen Kirchlichkeit scheint mir die Vereinseitigung immer stärker zu werden. Ich wollte noch mal Mut machen, zu schauen, was fehlt mir eigentlich, und welcher Bereich müsste eigentlich noch viel stärker bei mir in meiner eigenen Spiritualität gestärkt werden.

Wieder öffentlich über Religiosität sprechen

Weber: Und Sie wünschen sich dann eine Spiritualität, die Sie durch die drei Adjektive kennzeichnen: eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt. Ehrlich gesagt, könnte man diese Adjektive ja jetzt auch in einem Erziehungsratgeber finden. Also wo ist eigentlich da noch der Bezug zur Religion? Ist das nicht einfach ein Menschsein, was Sie sich da wünschen, ein In-der-Welt-Sein und Mit-anderen-Sein? Braucht man dazu Religion?
Habenicht: Ja, also das Merkwürdige ist ja, dass wir in einer Zeit leben, in der viele sagen, ich bin spirituell, und suchen sich dann irgendetwas aus und sagen, das ist jetzt meine Spiritualität. Ich finde es interessant, dass Menschen wieder in der Lage sind, darüber auch miteinander zu kommunizieren und ins Gespräch zu kommen.
Das heißt, ich versuche, Religiosität aus der Privatsphäre auch wieder in einen öffentlichen und in einen halböffentlichen Bereich zu holen, damit wir wieder in der Lage sind, über das, was uns im stillen Kämmerlein bewegt, auch zu sprechen. Viele Formen von Spiritualität heute neigen stark zur Vereinseitigung, und ihnen fehlt genau diese Fähigkeit. Entweder wird irgendwelchen komischen Lehren gefolgt, und es fehlt einfach das Kooperative, dass man nur sein Eigenes sucht, oder es wird nur ganz stark aktiv etwas getan, ohne dass auch mal Zeit ist, innezuhalten.
Also ich glaube, dass wir neue Formen brauchen, diese drei Elemente wirklich miteinander ins Gespräch zu bringen und dann aber bitte eigensinnig. Das heißt, jeder hat und soll die Freiheit haben, das für sich auch zu gestalten. Aber mal von oben draufzugucken, was brauche ich wirklich, und was ist essenziell, dafür habe ich versucht, mal so einen Überblick zu geben und habe den Eindruck, das lohnt, dass man das für sich selber noch mal anschaut.

Neue Rolle für die Kirchen: Fantasie statt Dogmen

Weber: Für sich selber, aber auch für die Kirche, der Sie da die Rolle der Begleiterin eigentlich geben wollen. Ist denn die Kirche dazu fähig, einzelne Menschen in ihrer spirituellen Suche zu begleiten, ohne Glaubenssätze zu diktieren?
Habenicht: Davor stehen wir, genau vor dieser Aufgabe. Also ich glaube, wir brauchen als Kirchen ein neues Rollenverständnis. Wir müssen nicht darauf hinarbeiten, dass 99 Prozent unserer Kirchenmitglieder jeden Sonntag im Gottesdienst sitzen, sondern unsere Aufgabe ist es, Menschen in ihren Lebenssituationen zu begleiten und ihnen etwas an die Hand zu geben, mit dem sie dann in ihrem Leben auch wirklich etwas anfangen können.
Das heißt, wir müssen viel stärker noch mal schauen: Wie können wir das, was uns wichtig ist, in Formen weitergeben, die für die anderen dann auch wirklich aufnehmbar und verwendbar sind? Da noch mal neue Fantasie aufzuwenden, das heißt, nicht immer zu glauben, es müsse immer alles in die Kirchengemeinde zurückfließen, sondern das ist gut, wenn man kommt, etwas erlebt, etwas lernt und das wieder in seinen Alltag mit hineinnimmt. Ich glaube, da brauchen wir als Kirchen ein neues Selbstverständnis, und da sind wir, glaube ich, noch ganz, ganz am Anfang.

Eigene Ausdrucksformen finden

Weber: Eigentlich ist ja im Mai und Juni auch eine Hoch-Zeit für die Konfirmationen, jetzt wegen Corona wird da viel verschoben, aber trotzdem werden Sie auch in Ihrer Gemeinde Konfirmandenunterricht oder -projekte haben. Sie sind ja auch zuständig für die Jugendarbeit. Ist nicht die Grundidee von Konfirmation, eben etwas zu bestätigen bei den jungen Leuten, also die Lehre sozusagen noch mal zu vermitteln und ihnen klarzumachen, das sind die Grundsätze deiner Kirche. Passt das zusammen mit einer Freestyle Religion?
Habenicht: Ich glaube, dass wir Jugendlichen heute viel mehr vermitteln müssen, dass sie in der Lage sind, sich mit religiösen Elementen auseinanderzusetzen und damit umzugehen. Ich glaube, dass es heute nicht mehr möglich ist… – Sloterdijk hat das mal uneinholbare Sätze genannt: Ich glaube, dass es sehr schwer ist, solche uneinholbaren Sätze für immer für das eigene Leben zu formulieren, sondern dass es vielmehr um die Fähigkeit geht, immer wieder auf religiöse Traditionen zuzugehen und sich auf sie einzulassen und mit ihnen umzugehen.
Das heißt, ich versuche, den Jugendlichen beizubringen, sich auf etwas einzulassen, etwas zu probieren und sich mit diesen Dingen dann so auseinanderzusetzen, dass sie es sich aneignen können. Ich muss sagen, ich habe den Eindruck, das gelingt ganz gut, weil die Jugendlichen es eigentlich gern haben, dass ich ihnen nicht sage, das müsst ihr am Ende glauben, sondern dass sie sehen, ich darf meins finden, und ich helfe, und mir wird dabei geholfen, dass ich dafür Worte und Ausdrucksformen finde.

Für manche Jugendliche ist Kirche ein Freiraum

Weber: Und von dem Wunsch, da auch Nachwuchs zu finden für die kirchliche Jugendarbeit, haben Sie sich dann verabschiedet, oder schwingt das trotzdem mit? Das ist ja eigentlich auch immer eine Aufgabe von Konfirmandenunterricht, die jungen Leute wieder stärker an die Gemeinde zu binden.
Habenicht: Nein, davon habe ich mich ganz und gar nicht verabschiedet, sondern ganz im Gegenteil. Gerade heute haben wir erfahren, dass wir ein Jugendlager Ende Juni stattfinden lassen können, und da fahren jetzt auch einige meiner Konfirmandinnen und Konfirmanden mit. Natürlich ist das so, dass Jugendliche die Möglichkeit haben, weiterhin mit mir und mit der Gemeinde unterwegs zu sein, Dinge zu lernen und auszuprobieren, aber das sind nicht alle, sondern das sind ein paar. Das sind die, die sagen: Jawohl, für mich ist Kirche so ein Freiraum, wo ich für mich Dinge ausprobieren, lernen und entdecken kann. Ich habe den Eindruck, gerade auch hier in der Schweiz, je länger desto mehr, das hat Chancen, dass es gehört wird und dass es auch Widerhall findet. Aber wie immer in der Jugendarbeit braucht das natürlich enorm viel Geduld.

Eine von Hand geschriebene Corona-Bibel

Weber: Mit Ihrer Gemeinde und auch darüber hinaus haben Sie ein Großprojekt initiiert in diesen besonderen Zeiten: eine sogenannte Corona-Bibel, die jetzt zu Pfingsten abgeschlossen wird. Hat auch das was mit Freestyle Religion zu tun?
Habenicht: Ja, der Witz ist, dass mir das selber erst hinterher eigentlich klargeworden ist, wie eng das mit diesem Freestyle-Konzept zusammenhängt. Also wir haben ja Menschen eingeladen, ein Kapitel der Bibel zu Hause abzuschreiben, in diesen Corona-Zeiten, in denen man andere nicht treffen konnte, das einzusenden, und daraus werden wir eine Sankt-Gallener Corona-Bibel machen. Und das Besondere ist eben, dass man eigene Gedanken, Kommentare, Illustrationen zum Bibeltext hinzufügen kann. Wir haben jetzt in diesen Tagen Massen von Umschlägen, die uns erreichen, und es ist unglaublich, wie intensiv Menschen sich damit auseinandersetzen.
Das ist das, was ich mir wünsche, dass wir etwas vorgeben, mit dem man sich auseinandersetzen kann und darf, ohne dass vorgegeben ist, was am Ende rauskommen muss. Die Ergebnisse werden wirklich wunderbar sein, und wir freuen uns, wenn die Bibel dann im Herbst fertig ist. Und es wird auch eine Onlineversion geben, sodass man dann auch wirklich mal darin blättern kann und gucken, wie die anderen ihre Kapitel geschrieben und auch kommentiert haben.

Einladung zur freien Auseinandersetzung mit dem Text

Weber: Aber gibt es bei den Kommentaren auch Dinge, wo Sie denken: Ach nee, das geht jetzt wirklich nicht, oder das entspricht überhaupt nicht meiner Vorstellung von Glauben oder meinem Verständnis von diesem Text? Können Sie da ganz offen sein und sagen: Ja, wenn der oder die das so sieht, dann ist das eben so?
Habenicht: Also es geht ja nicht darum, dass ich damit glücklich bin. Das muss ja auch nicht meins sein, sondern die Einladung ist, wirklich sich auseinanderzusetzen und das in aller Freiheit. Die Ergebnisse sind wunderbar, weil sie diese Auseinandersetzung zeigen. Und es kann ja sein, dass ich diese Bibel dann durchblättere, heute, und sage, das finde ich unmöglich, und in zehn Jahren sage, oh, da hat jemand etwas erkannt, das habe ich damals noch nicht gesehen.
Es gibt zwei Projekte, die unsere Sankt-Gallener Corona-Bibel-Initiative aufgenommen hat, in den USA und in Frankreich, und die Franzosen haben das Projekt sehr viel enger gefasst. Sie haben sehr viel mehr vorgegeben. Im Gespräch mit den Franzosen habe ich gedacht: Mensch, ich bin dankbar dafür, dass wir diese Weite haben, dass wirklich jeder alles schreiben darf und dass es nichts gibt, was darin nicht Platz hätte.
Weber: Nur dann kann es wirklich eine Freestyle Religion sein. Vielen Dank, Uwe Habenicht, evangelischer Pfarrer in Sankt Gallen und Autor des Buchs "Freestyle Religion. Eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt. Eine Spiritualität für das 21. Jahrhundert." Erschienen ist es im echter-Verlag, 152 Seiten kosten knapp 15 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema