Dorothee Elmiger: Schlafgänger
DuMont Verlag, Köln 2014
142 Seiten, 18 Euro
Ein faszinierendes Textgestrüpp

Dorothee Elmiger lässt ihre Protagonisten durch nächtliche Städte wandeln und von ihren Gedanken und Träumen erzählen. Schlafgänger ist noch fragmentarischer als ihr Debüt und bietet noch weniger Orientierung. Ein höchst ungewöhnliches, lesenswertes Buch.
Dorothee Elmigers "Schlafgänger" ist kein Roman, eher ein Sprechtheater. Es kommt ohne Handlung aus. Mit dem autobiographisch motivierten Schreiben vieler jüngerer Autoren hat das Buch der 1985 geborenen Elmiger auch nichts gemein. "Schlafgänger" ist noch fragmentarischer als ihr Debüt, die mehrfach ausgezeichnete "Einladung an die Waghalsigen". Als eine ebensolche muss man auch dieses Buch verstehen. Es ist trotz seiner nicht selten enervierenden Verweigerung jeglicher Orientierungsmöglichkeit ein faszinierendes Textgestrüpp.
Schlafgänger hießen im 19. Jahrhundert jene Landflüchtlinge, die als industrielle Reservearmee in die anschwellenden Großstädte strömten, keine Wohnung, nur ein Bett für wenige Stunden fanden und der Polizei als verdächtige "flüchtige Existenzen" galten. Unbehaust sind auch Elmigers Schlafgänger.
Ein irritierendes Geflecht
Sie gehen in der Schweiz, in Djerba oder in Los Angeles durch nächtliche, schlafende Städte oder Wälder. Eine Schriftstellerin, eine Übersetzerin, ein Logistiker, ein Student, ein Journalist, eine Frau namens A. L. Erika und einige weitere Protagonisten äußern in voneinander abgesetzten Textblöcken Gedanken, erzählen Geschichten, Träume, Wahrnehmungen. Zu Charakteren werden sie nicht. Manchmal treten sie hinter einen Stuhl oder stehen in der Tür eines zuvor nicht beschriebenen Raumes, selten sprechen sie miteinander. Elmiger breitet ein irritierendes Geflecht aus, manchmal musikalisch anmutend, manchmal beliebig.
Die Einsamen bewegen sich schlaflos auf der Nachtseite und sprechen über Grenzen, die die Waren des Logistikers und die Worte der Schriftstellerin, der Übersetzerin, des Journalisten überwinden: Grenzen zwischen Staaten, Traum und Wachsein, Realität und Imagination, Land und Meer. Weil Körper dagegen von Grenzen abgehalten werden sollen, sprechen sie auch über Abschiebehäftlinge und die "Erhaltung ihrer Rückkehrfähigkeit", über Fingerkuppen, die die Flüchtlinge sich abschleifen, um ihre Identifizierung zu verhindern, über fallende Dinge und Obdachlose, Polizei und Sicherheitsdienste. Das Grenzregime durchzieht die ganze Gesellschaft.
Unverkennbar schreibt die in der Schweiz lebende Elmiger in größtmöglicher Distanz über die jahrelang hitzig debattierte Zuwanderung. Ihre Schlafgänger sind Beobachter. Manches können sie "nur schlecht ertragen", sperren jedoch "geradezu gierig" die Augen auf und schildern präzis, aber unbeteiligt. Auf die Festnahme eines Betrunkenen folgt, nur durch ein Komma getrennt, die Filmaufnahme einer Köpfung, "während in der Küche das Wasser kochte, dann der Tee aufgebrüht und zur Hälfe getrunken wird." Ein meist unsichtbarer allwissender Erzähler bettet die Gewalt in den Alltag ein.
Kein umfassender Gewaltzusammenhang
Diese Vermeidung von emotionalen Reaktionen, naheliegenden Erklärungen, runden Geschichten, greifbaren Charakteren und Zusammenhängen ist eine Herausforderung. Bei der Stange halten den Leser Ansätze zu Geschichten: Wiederholt werden Schweizer Auswanderer in die USA im 19. Jahrhundert und ein Videokünstler erwähnt, der Logistiker begeht Selbstmord, spricht aber weiter, die Schriftstellerin bezieht Stellung.
Anders als Marlene Streeruwitz oder Olga Flor schildert Elmiger keinen umfassenden Gewaltzusammenhang, anders als Kathrin Röggla oder Philipp Schönthaler zeichnet sie keine Sprachmasken nach. Das Verstreute, Diffuse, alles Durchdringende der staatlichen, individuellen, wirtschaftlichen, psychischen und anderer Grenzziehungen ist das Beunruhigende. "Schlafgänger" ist ein höchst ungewöhnliches und beunruhigend sperriges Buch.