Sprachwandel

Wie wichtig ist Rechtschreibung?

30:32 Minuten
Illustration mit ABC und anderen Symbolen die einenBezug zu Schule und Bildung haben.
Verfällt die Sprache oder ist es ein ganz normaler Wandel, den sie durchläuft? © IMAGO / Ikon Images / Roy Scott
Von Dorothea Brummerloh · 04.12.2023
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Immer weniger Menschen können fehlerfrei schreiben, wird in Redaktionen, an Schulen und Universitäten beklagt. Korrekte Orthografie und Grammatik scheinen aus der Mode gekommen zu sein. Ist das wirklich so schlimm? (Erstsendung am 5.9.2022)
Hans Morgenthaler, ein älterer Herr mit grauem Bart und Brille, ist pensionierter Berufsschullehrer. Seine Professionen waren Physik und Politik, gepaart mit einem speziellen Faible für die deutsche Sprache, erzählt er lachend.
„Da das bei mir ein Hobby ist, neige ich auch dazu, im Alltag mal zu sagen: Korrektes Deutsch wäre eigentlich … Das sind ja nicht nur Schönheitsfehler, sondern macht eine Sprache ja auch unverständlicher.“
Morgenthaler sucht am PC in seinen gesammelten Werken, wird schnell fündig. „Zum Beispiel wird geschrieben: ‚Auto vom Verbrannten gefunden‘, statt ‚Auto des Verbrannten‘. Dann zum Beispiel wird der Konjunktiv mit dem Konditional verwechselt. Bei der indirekten Rede ist ja der Konjunktiv. Da schreiben die Leute immer: Er sagte, er würde das und das machen. Das ist natürlich falsch. Er sagte, er mache das, wäre der Konjunktiv.“
Die deutsche Sprache sei sein Hobby, so der 77-Jährige. Diese verwildere zusehends. Nicht nur im öffentlichen Raum, wo das apostrophierte "s" grammatikalisch falsch auf „Karin´s Beauty-Salon“ und „Harry´s Wurstbude“ hinweist, sondern auch in Zeitungen und Magazinen.
Da er das verbessern möchte, schreibt er an die Redaktionen, bescheinigt diesen eine „schräge Syntax“ oder einen „hässlichen Nominal-Stil“. Morgenthaler schreibt Journalist*innen eine orthografisch zu. Daher hält er es für ein großes Manko, dass sie oft nicht in korrektem Deutsch berichten.

Orthografische Fehler in den Redaktionen

Martin Doerry arbeitete 16 Jahre lang als stellvertretender Chefredakteur des „Spiegel“. Seine Aufgabe war es, jeden Text, der gedruckt werden sollte, gründlich vorher zu lesen.
„Dann wird man ganz automatisch zu einer Art Sprachwächter, geht anderen Leuten damit fürchterlich auf den Wecker. Ich habe in den letzten Jahren in der Chefredaktion tatsächlich den Trend zu spüren gemeint, dass es bergab geht, dass auch Redakteure nicht mehr so gut schreiben, wie sie mal früher geschrieben haben, was ja ein Wunder wäre: Warum sollten die anders ticken als die Menschen, die in anderen Berufen arbeiten?“
An einer Hauswand in Mylau hängt ein Schild mit der Aufschrift "Merkel`s Imbiss".
"Merkel's Imbiss" ist orthografisch zwar nicht korrekt, trotzdem kann das Bier und die Currywurst hier schmecken.© picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild / Stephan Schulz
So hört man auch in Radio- oder Fernsehberichten sprachliche Fauxpas: zum Beispiel der Super-GAU, bei dem der größte anzunehmende Unfall noch gesteigert wird. Für den einen oder anderen ist das sprachlicher Mumpitz, für den Duden ist es das seit Fukushima nicht mehr. Dass ich mich erschreckt habe, ist semantischer Unfug, weil man nur jemand anderen erschrecken kann.

Vorbildfunktion der Lehrer und Journalisten

Hand aufs Herz: Haben wir nicht alle schon einmal bei der Verballhornung des Deutschen gedacht, mit der deutschen Sprache geht es bergab? Schon im Mittelalter haben sich Schulmeister beschwert, dass ihre Schüler und Schülerinnen nicht mehr wüssten, was korrektes Deutsch sei.
Anscheinend hat sich daran nichts geändert – sowohl im Schriftlichen als auch im Mündlichen werden orthografische und stilistische Böcke geschossen, nicht so bei Dieter Toder. Die äußere Form sei ihm „schon sehr wichtig“, gesteht der Oberstudiendirektor im Kirchendienst.
„Ich weiß, ich bin da altmodisch. Aber ich denke, wenn ein Lehrer sich für eine Lehrerstelle bewirbt und in dem Anschreiben sind zwei, drei Rechtschreibfehler drin, dann leg ich die beiseite.“
Wer als Lehrkraft bei ihm arbeitet, müsse die Rechtschreibung beherrschen, sagt der Leiter der Schule Schloss Gaienhofen. Schließlich vermitteln Lehrende ihr Wissen an die nächsten Generationen weiter.
Doch korrekte Orthografie und Grammatik scheinen nicht nur bei Lehrkräften aus der Mode gekommen zu sein. Personalchef*innen von Unternehmen, Behördenchef*innen oder Ausbilder*innen in Handwerksbetrieben beklagen, dass Nachwuchskräfte, Studierende oder Auszubildende immer mehr Fehler beim Schreiben machen.
Der Journalist und Buchautor Martin Doerry gestikuliert auf der Austellung "nirgendwo und überall zu haus".
Auch der Journalist und Buchautor Martin Doerry beklagt, dass Redakteure nicht mehr so gut schreiben können wie Journalisten früher.© picture-alliance / dpa / Sebastian Widmann
Journalist und Buchautor Martin Doerry fasst zusammen, was viele denken: „Mein Eindruck ist, dass in den Schulen einfach nicht mehr genug Wert auf richtiges Schreiben gelegt wird.“

Großer Wortschatz, flexible Ausdrucksmöglichkeit

„Aus historischer Perspektive haben Grundschüler mit Gymnasialempfehlung heute einen größeren Wortschatz und flexiblere Ausdrucksmöglichkeiten, während die Sicherheit in der Rechtschreibung eher zurückgegangen ist“, konstatiert Ursula Bredel vom Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität Hildesheim im Bericht zur Lage der Deutschen Sprache.
Sprachwissenschaftler Dirk Betzel hat das mit 1000 Texten von Grundschüler*innen aus Nordrhein-Westfalen von 1972 bis 2012 genauer untersucht. Sein Ergebnis: Der Fehlerquotient bei der Großschreibung stieg darin deutlich von 3,1 auf 11,2.
Dieter Toder, Jahrgang 1955, bestätigt, dass früher in der Schule mehr Wert auf Rechtschreibung gelegt wurde. In die Larmoyanz, in den allgemeinen Tenor „mit der deutschen Sprache gehe es den Bach runter“, möchte der Pädagoge aber nicht einstimmen.
„Wenn man den Katalog der Kompetenzen erweitert, dann ist es ganz natürlich, dass an einer Stelle Wichtigkeiten geringer werden“, sagt er. „Wenn ich mehr Kompetenzbereich im Mündlichen, im Hörverstehen, im mündlichen Ausdruck habe, dann kann ich nicht gleichzeitig die Forderung nach schriftlicher Ausdrucksfähigkeit hochhalten wie vor 30 oder 40 Jahren.“
Dafür haben heutige Generationen Kompetenzen, die ihre Vorgänger*innen nicht hatten, bestätigt der Journalist Martin Doerry.
„Alleine die digitalen Kompetenzen sind natürlich sensationell. Da muss man fair sein und sagen, okay, die haben jetzt Qualifikationen, mit denen sie unsere Gegenwart und unsere Zukunft bewältigen können, auch an der Schule gelernt oder vielleicht auch viel privat. Diese Kompetenzen sind sehr wichtig.“
Im „Dritten Bericht zur Lage der Deutschen Sprache“, herausgegeben von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, heißt es, einen allgemeinen Sprachverfall unter Schülern und Schülerinnen gebe es nicht.
Von einem Sprachverfall, den manche gebetsmühlenartig mit dem Untergang des Abendlandes gleichsetzen, würde auch Schulleiter Toder nicht sprechen.
„Ich denke, Sprache verändert sich permanent. Insofern ist es ein Teil der Realität, dass sich die Sprache zum Mündlichen hin entwickelt. Das kann man bedauern – oder auch nicht. Jedenfalls ist damit natürlich die Bedeutung der Rechtschreibung insgesamt zurückgedrängt, was nicht heißt, dass ich das nicht mehr wichtig finde.“
Damit ist Dieter Toder nicht allein. Im Auftrag der Roland Berger Stiftung, die sich mit dem Deutschen Schülerstipendium für mehr Chancengleichheit an deutschen Schulen einsetzt, hat das Institut für Demoskopie Allensbach eine repräsentative Umfrage gemacht und gefragt, was für Eltern als Lernziel besonders wichtig ist: Für über 80 Prozent der Befragten ist das eine gute Beherrschung von Orthografie und Grammatik.

Sprache entwickelt sich weiter

Das Thema Sprachverfall sei allgegenwärtig – in allen Kulturnationen und über alle Zeiten hinweg: Von Platon über Quintilian und Rousseau bis hin zu Kemal Atatürk und Helmut Kohl, erklärt Rudi Keller. „Sprachen entwickeln sich weiter.“
Keller, emeritierter Linguist, hat in seiner akademischen Laufbahn den Sprachwandel erforscht. In einem Wörterbuch aus dem 19. Jahrhundert hat er zum Beispiel nach dem Wort „schrauben“ und seiner Konjugation gesucht. Diese lautete damals: schrauben, schrob, geschroben, neuerdings auch schon schraubte. „Das heißt, die Zeitgenossen Mitte des 19. Jahrhunderts, die gebildeten, haben sicher gedacht: Ach Gott, die Leute sagen jetzt schon schraubte statt schrob. Jetzt sagen wir alle schraubte, schrauben, schrob. Geschroben ist uns gar nicht mehr bekannt.
Ich lese in der Zeitung: Er backt einen Kuchen. Es sollte heißen: Er bäckt einen Kuchen, backen, buck, gebacken. Jetzt sagen die Leute: backen, backte, gebacken. Die Wahrnehmung des Sprachverfalls ist eine Wahrnehmung des Sprachwandels – und zwar zu dem Zeitpunkt, zu dem er dann stattfindet.“

Neue Worte wie Uploadfilter und Videobeweis

Alte Wörter verschwinden, neue kommen hinzu. Das ist ganz normal, wenngleich man vielleicht solch wunderbare Wörter wie Kokolores, blümerant und hanebüchen vermissen wird. Die 28. Auflage des Duden umfasst 148.000 Stichwörter, 3000 neue Wörter mehr als in der vorherigen Ausgabe, mehr als fünfmal so viele wie im Ur-Duden von 1880.
Duden der neuen Rechtschreibung und das Grundschulwörterbuch stehen in einem Regal.
Der Duden erlaubt bei manchen Worten auch unterschiedliche Schreibvarianten.© picture alliance / dpa / Patrick Seeger
Neue Wörter wie Uploadfilter, boostern oder Videobeweis, die in den Sprachschatz aufgenommen werden, spiegeln Entwicklungen aus allen Lebensbereichen wider. Andere werden aus Fremdsprachen übernommen, was wir im Laufe der Zeit gar nicht mehr bemerken. „Kuckuck ist ein französisches Wort. Früher hieß das Ding Gauch. Tante ist Französisch: Früher hieß das Muhme und Base. Onkel französisch: Früher hieß es Oheim. Das sind, wenn Sie so wollen, alles Fremdwörter. Partner ist ein englisches Wort.“

Schreibvarianten im Duden

Der Duden, das Standardwerk zur deutschen Sprache, bietet Nachschlagenden mittlerweile auch Schreibvarianten an: So kann man abhandenkommen zusammen, aber auch getrennt schreiben, Ordonnanz mit Doppel-n oder nur mit einem – oder buchführend zusammen und klein oder getrennt und dabei Buch groß und führend klein.
Das sei nicht nur für die Schülerschaft eine Herausforderung, meint Hans Brügelmann, Erziehungswissenschaftler und Grundschulpädagoge.
„Das führt zum Beispiel auch bei mir dazu, der ich wirklich ein sehr guter Rechtschreiber bin, dass ich teilweise etwas verunsichert worden bin in den letzten Jahren, weil ich gelernt habe, man kann dies auch so schreiben. Geht es vielleicht auch da? Oder galt es nur da?“

Sprache dient nicht nur zur Verständigung

Sprachwandel gibt es in allen Sprachen, zu allen Zeiten und in allen Bereichen, erklärt Rudi Keller – von der Morphologie, also den typischen Wortbildungsmustern, über die Syntax, den Satzbau, bis hin zur Semantik, der Wortbedeutung.
„‘Geil‘ ist übrigens ein wahnsinnig interessantes Beispiel. In meiner Jugend hätte ich das Wort ‚geil‘ in Anwesenheit von Erwachsenen nicht verwendet, weil es obszön war und ausschließlich in sexuellen Kontexten verwendet wurde. Im Mittelhochdeutschen war ‚geil‘ ein häufig verwendetes Wort. ‚Geil‘ hieß übermütig und ausgelassen. In der Original-Lutherbibel steht von Jakob: Da Jakob aber fett und satt ward, ward er geil. In der heutigen Bibelübersetzung steht: ward er übermütig. Wenn Luther sagte, der ward geil, dann meinte er, der war übermütig. Das wurde mit der Zeit uminterpretiert.“
Sprache diene nicht nur zur Verständigung, sagt Linguist Keller. Das sei nur ein Aspekt. Sprache diene auch zum Imponieren, um freundlich zu sein, habe soziale Aspekte.
„Es ist ähnlich wie bei Kleidung. Man könnte denken, die Kleidung dient dazu, uns zu wärmen. Aber dazu bräuchte man keinen Minirock und keine Krawatte. Das heißt, die Kleidung dient zum Beispiel dazu, zu imponieren, die Persönlichkeit auszudrücken. Das ist bei der Sprache auch so. Ich habe hier ein Beispiel der ‚Rheinischen Post‘ von 1952, Kleinanzeigen. Da wird für ein fesches Damenkleid geworben. Das könnte man heute auch noch sagen. Aber es gibt kein Geschäft mehr, das fesche Damenkleider verkauft. Das heißt, es sind Konventionsveränderungen, die letztlich sprachlich nicht furchtbar dramatisch sind, aber fesch sagt man nicht mehr, wenn das ein schönes Kleid ist.“
Laut Keller sei Sprache ein komplexes System konventioneller Regeln. Jede Veränderung beginnt mit dem Übertreten dieser. Im sprachlichen Kontext nennt man das Fehler. Wenn dieser mit der Zeit Usus geworden ist, ist er kein Fehler mehr. So entsteht eine neue Konvention.
„Ich höre jetzt die Leute sagen: im Herbst diesen Jahres. Es sollte heißen: im Herbst dieses Jahres. Aber weil es vorigen Jahres, nächsten Jahres heißt, machen sie so eine Analogieform: diesen Jahres. Das ist ein Fehler, der ist so systematisch, dass er zur neuen Regel wird. So sicher wie das Amen in der Kirche.“

Kein Sprachverfall, sondern Sprachwandel

Die systematischen Fehler von heute sind die neuen Regeln von morgen, konstatiert Rudi Keller. So entwickelt und wandelt sich die mündliche und schriftliche Sprache, ob wir das nun wollen oder nicht.
„Mir sagte mal ein Professor, der sich für die Bekämpfung von Anglizismen einsetzte, man sollte doch statt Airbag Prellsack sagen. Dann sagte ich ihm, ja, wenn sie das wollen, dann sagen Sie doch einfach Prellsack. Die einzige Möglichkeit, das durchzusetzen, ist, so oft wie möglich Prellsack zu sagen. Gehen Sie in die Werkstatt und sagen Sie: Mein Prellsack ist kaputt. Was passiert? Der ruft einen Psychiater. Die ganzen Versuche, willentlich die Sprache von außen zu beeinflussen, die gehen schief. Das war schon immer so und wird auch so bleiben.“
Der wahrgenommene Sprachverfall ist also der normale Sprachwandel. Gäbe es diesen nicht, würden wir wohl noch so sprechen wie die Minnesänger im Mittelalter:
Dû bist mîn, ich bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen in mînem herzen,
verlorn ist das sluzzelîn: dû muost ouch immêr darinne sîn.
Minne ist das mittelhochdeutsche Wort für Liebe. Ein Minnesänger trug also Liebeslieder vor. Diese Lieder wurden in Mittelhochdeutsch gesungen. Würde man seiner Angebeteten heute mit solchen Worten seine Liebe gestehen, würde diese kichernd das Weite suchen, den peinlichen Auftritt auf Instagram posten.
Die Lebenswirklichkeit aller, aber vor allem von Kindern und Jugendlichen in ihren Familien, in der Freizeit und in den Schulen, wo Sprachkompetenz erworben wird – ob nun mündlich oder schriftlich –, sieht heute anders aus.

Liberaler im Umgang mit Konventionen

In der Schule wird die nächste Generation ein anderes Verständnis von Sprache und der Bedeutung von Konvention mitbringen, als es ihre Eltern und Großeltern hatten, weiß Bildungsforscher, Grundschulpädagoge und Schriftsprachdidaktiker Hans Brügelmann.
„Man muss sehen, dass die Schule das nicht aus eigenem Impuls macht, sondern auf Veränderungen in der Gesellschaft reagiert. Wenn sie mal gucken, wie Rechtschreibfehler und Grammatikfehler in den Medien, in den Publikationen, selbst in Fachpublikationen stehen bleiben, dann merkt man, dass offensichtlich in der Gesellschaft die Bedeutung dieser Konvention relativiert worden ist. Das heißt, die Schule oder auch die Bildungspolitik reagiert auf eine Entwicklung, die generell zu beobachten ist. Man kann insgesamt sagen, dass unsere Gesellschaft liberaler geworden ist im Umgang mit Konventionen.“
Die Sprachwissenschaftler Dirk Betzel und Vivien Heller während der Pressekonferenz zur Lage der deutschen Sprache.
Die Sprachwissenschaftler Dirk Betzel und Vivien Heller während der Pressekonferenz zur Lage der deutschen Sprache: Die Rechtschreib-Kompetenz scheint abgenommen zu haben.© picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild / Monika Skolimowska
Gesellschaftliche Konventionen geben vor, wie sich der Großteil der Menschen innerhalb einer Gesellschaft in bestimmten Situationen verhält. Dazu gehört die Kleidung, zum Beispiel, was man auf Beerdigungen trägt, oder die allgemeine Idee davon, wie ein Leben zu verlaufen hat: Schule, Ausbildung oder Studium, Heirat und Kinder. Auch Sprache und Konventionen stehen in einer engen Beziehung zueinander.
„Ich habe meinen Studenten gerne die Geschichte erzählt von dem Studienrat, der mit seiner Angebeteten auf der Parkbank im Mondschein saß. Er sagt zu ihr: Liebst du mich? Sie antwortet: ja. Er sagt: Antworte bitte im ganzen Satz. Das ist natürlich eine Karikatur. Aber es ist eine, die für etwas steht, was mal die Vorstellung war: dass gesprochene Sprache dann gut ist, wenn sie Schriftsprache ist.“

Orthografie ist wichtig

„Man muss vielleicht auch aufpassen, wie man in der Öffentlichkeit darüber spricht und wie man innerhalb einer Gesellschaft auch zur Orthografie sich positioniert“, sagt Julia Knopf. Sie ist Professorin für Fachdidaktik Deutsch an der Universität des Saarlandes.
„Orthografie ist wichtig. Wir müssen stolz darauf sein, wenn wir orthografische Kompetenzen haben und nicht sagen, ist nicht so schlimm. Da sind wir Erwachsenen auch Vorbild für die Kinder und Jugendlichen.“
Das Beharren auf einer korrekten Schreibweise gilt im Zeitalter von Computern und Tablets mit Autokorrekturprogrammen als hausbacken, altmodisch und retro. Dem widerspricht die Leiterin des Forschungsinstituts Bildung Digital in Saarbrücken.
Für den Umgang mit digitalen Medien sei korrekte Rechtschreibung unerlässlich, so Julia Knopf, da das Gehirn Texte, die allgemein^verbindlichen Standards folgen, viel einfacher verarbeiten kann.
„Wir dürfen das Denken nicht einer Software überlassen. Wir müssen immer in der Lage sein, auch selbst zu reflektieren. Das heißt, wir müssen eigene Kompetenzen aufbauen, und die Rechtschreibkompetenz und die Sprachkompetenz sind für mich solche Kompetenzen. Wenn ich beispielsweise eine Software nutze, um einen Text zu schreiben, dann kann ich den über Spracheingabe eingeben. Aber ich muss ihn trotzdem überarbeiten, weil meine Spracheingabe nicht den Text hervorruft, wie er mir gefällt, oder das System nicht alle orthografischen und schon gar nicht alle grammatischen Normverstöße kennt.“
Es gilt: Wer die Norm nicht kennt, wird auch mit solchen Programmen nicht fehlerfrei schreiben können. „Wenn ich substantiierte Verben nicht groß und klein schreibe, kann ich schnell darüber hinweglesen und kann die Bedeutung nicht richtig erfassen."

Korrekte Schreibweise hilft, Texte zu verstehen

Eine korrekte Schreibweise ist für das Textverständnis bedeutsam, weiß Schulleiter Toder.
„Sprache entwickelt sich. Das ist kein Drama. Das ist ganz natürlich. Ich persönlich bedaure das trotzdem, weil ich natürlich einen anderen ästhetischen Zugang bekommen kann zur Sprache, wenn ich eine klare Vorstellung von korrekter Grammatik habe. Wie will ich sonst Fremdsprachen lernen? Wenn ich gar keinen Unterschied mehr zwischen Präteritum, Imperfekt und Perfekt verstehe, muss ich es dann in den romanischen Sprachen neu lernen. Die nicht mehr ganz korrekte eigene Sprachkompetenz behindert mich dabei, Fremdsprachen zu lernen.“
Die deutsche Grammatik und ihre Regeln – ein Gräuel für Generationen von Schüler*innen. Auch bei diesem Horrorthema kann man Lernenden zeigen, wie wichtig diese Grundlage ist, meint Hans Brügelmann. Allen voran: das Komma, mit dem manche auf Kriegsfuß stehen.
„Ich finde, da müssen die Schülerinnen und Schüler lernen, wo hilft das Komma, dass man dich besser versteht. Da muss man einfach deutlich machen, welche Funktion das hat, warum ist das wichtig, und nicht einfach sagen, du musst die Kommaregeln lernen. Das bringt überhaupt nichts.“
Denn ein Komma, dieser kleine, unscheinbare und oft vergessene Strich, kann entscheiden über Leben und Tod.
Komm, wir essen, Opa.
Komm, wir essen Opa.
Über Besitz:
Johanna erbte den Schmuck, nicht aber ihr Mann.
Johanna erbte den Schmuck nicht, aber ihr Mann.
Oder wer der Dümmere ist:
Der Schulrat sagt, der Lehrer ist ein Dummkopf.
Der Schulrat, sagt der Lehrer, ist ein Dummkopf.
Die Lebenswirklichkeit aller hat sich geändert. Früher blockierten Teenager stundenlang die Telefonleitung, heutzutage scheint ohne Textnachrichten auf ihren Handys nichts mehr zu gehen.
Brieffreundschaften, wie sie frühere Generationen pflegten, gibt es kaum noch. Weder Jugendliche noch ihre Eltern schreiben heute noch Urlaubskarten, wenn es mit einer MMS oder Sprachnachricht via Messengerdienst einfacher geht. Ob Podcasts, Hörbücher oder gestreamte Filme: In vielen privaten, aber auch beruflichen Bereichen ist die Schriftlichkeit auf der Strecke geblieben.

Anforderungen an die Schule haben zugenommen

Schule kann das nur bedingt kompensieren. Kinder aus Elternhäusern, die den am Schriftstandard orientierten Spracherwartungen der Schule näherstehen, sind schulisch erfolgreicher. Aber es gibt viele Familien, die mit dieser Unterstützung überfordert sind.
Hinzu kommt, dass sich die Zusammensetzung der Schülerschaft geändert hat. Nicht mehr jedes Kind ist muttersprachlich deutsch aufgewachsen – auch das muss die Schule zum Teil kompensieren. Die Voraussetzungen, die Schüler*innen mitbringen, sind heute heterogener denn je, während die Komplexität der Anforderungen an die Schule zugenommen hat.
Die Zeit aber, die zur Verfügung steht, um all diese Aufgaben zu bewältigen, ist nach wie vor begrenzt: auf zehn bis maximal 13 Jahre. Das alles bleibt nicht ohne Folgen: „Wir wissen aus Studien, dass 20 Prozent der Viertklässler sogar unter dem Mindeststandard Orthografie liegen. Wenn wir das vergleichen mit 2011, dann sind das ungefähr zehn Prozentpunkte weniger.“
Es stellt sich die Frage: Was wollen, was können, was müssen wir ändern? Die sogenannte Logik-Studie hat die Rechtschreibkompetenz Heranwachsender in einer Langzeituntersuchung zwischen 1984 und 2004 beobachtet und kommt zu dem Ergebnis: „Diejenigen Kinder, die gegen Ende der Kindergartenzeit einen Vorsprung im Bereich der phonologischen Bewusstheit und im Buchstabenwissen aufwiesen, zeigten auch zwei Jahre später beim Lesen und Schreiben bessere Leistungen.“
Der in dieser Studie bei Achtjährigen festgestellte Leistungsunterschied verschwindet nicht einfach. Er findet sich in ähnlicher Weise bei Fünfzehnjährigen im Rechtschreiben wieder. Die Weichen werden also im Grundschulalter gestellt. Mit anderen Worten: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
Welche Schlussfolgerungen sollte man daraus ziehen, fragt sich nicht nur Hans Brügelmann? Fest steht, „dass Spracherwerb ein ganz, ganz langer Prozess ist, der dadurch geprägt ist, dass die lernende Person Sprache fehlerhaft benutzen darf, in der Form, in der sie darüber verfügt, aber interagiert mit Personen, die ihr zurückspielen, wie das richtig ist, sodass sie sich mit der Zeit über diesen Input weiterentwickeln kann.“

Kinder brauchen sprachliche Vorbilder

Kinder und Jugendliche brauchen sprachliche Vorbilder – in allen Bereichen der Gesellschaft. Eine große Rolle haben dabei die Familien, meint Hans Brügelmann, die von klein auf mit dem guten alten Vorlesen Sprache fördern könnten. Leider wird das zu wenig gemacht.
„Wir wissen, dass das Vorlesen ein ganz entscheidendes Mittel ist, um Kindern Sprache, aber auch Weltwissen zu vermitteln. Wir wissen, wie stark das Ausmaß der Vorlesererfahrungen korreliert mit dem Erfolg beim Lesen und Schreiben Lernen. Die Kinder erwerben Skripte, wie ein Märchen oder Dialog aufgebaut ist. All das lernen sie über das Immer-wieder-Hören dieser Mustersprache, könnte man sagen.“
Ein Erzieher liest in einer Kita aus einem Buch vor.
Vorlesen hilft Kindern nicht nur, Lesen und Schreiben zu lernen, sondern ist auch meist spannend.© picture alliance / dpa / Swen Pförtner
Das bestätigt auch Sprachwissenschaftlerin Vivien Heller: Wer zu Hause mit den Eltern über Bücher diskutiert, hat es bei seiner sprachlichen Entwicklung leichter, als wenn dort nur über Organisatorisches gesprochen wird.
„Dann ist auch die Frage: Was passiert in diesen Gesprächen? Wird erklärt? Wird erzählt, was auf der Arbeit, in der Schule, im Kindergarten los war, was man erlebt hat? Wie werden die Kinder und Jugendlichen an solchen Aktivitäten beteiligt? Sind sie eher in einer passiven Rolle oder werden sie produktiv als Erzähler mit einbezogen und sind sie gefordert? Je nachdem, ob das geschieht, bringen Kinder ganz unterschiedliche kommunikative Erfahrungen mit in die Schule und können die für Unterrichtsgespräche nutzen oder eben nicht nutzen.“

Lehrer müssen deutsche Sprache beherrschen

Die Heranwachsenden sollten also in Interaktionen und bei gemeinsamen Aktivitäten auch selbst die Rolle des Erklärenden übernehmen. Das sollte in den Familien durch Argumentieren, Erzählen und Veranschaulichen geschehen – aber eben nicht nur dort. Auch Lehrkräfte können und müssen entsprechend agieren, so Hans Brügelmann.
„Lehrerinnen und Lehrer müssen die deutsche Sprache beherrschen. Wir brauchen nicht erst in der Schule, sondern wir brauchen schon im Kindergarten Pädagog*innen, die in der Lage sind, als Sprachvorbild zu wirken.“
An vielen Universitäten, so auch in Saarbrücken, wurden Rechtschreibseminare eingerichtet, in denen den Studierenden Fertigkeiten in Orthografie, Grammatik und Interpunktion vermittelt werden sollen, die sie in der Schule schlecht gelernt, nicht gelernt oder wieder vergessen haben.
„Das heißt, was wir zunächst machen müssen: Wir müssen an den Universitäten die Orthografiekompetenzen der Studierenden schulen. Das heißt, ich habe erst einmal mit einem Schulproblem zu tun, das ich lösen muss. Da gibt es Kollegen, die sagen, das ist nicht unsere Aufgabe. Ich meine, wir müssen es lösen, sonst kann ich diesen Kreislauf nicht durchbrechen. Denn die gehen ja später an die Schulen und unterrichten wieder.“

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Erst, wenn die Basis stimmt, kann der Überbau folgen. Das heißt, dann lernen die zukünftigen Lehrkräfte guten Orthografieunterricht: weg von einem traditionellen Unterricht, also Regeln einführen, üben, Haken hinter, hin zu einem integrativen Orthografieunterricht.
„Wir machen beispielsweise auch Stadtspaziergänge und fotografieren in Schaufenstern falsche Schilder, Speisekarten und so weiter. Denn nur so schaffe ich es, das Bewusstsein zu schaffen, dass Orthografie Teil des Alltags ist. Dieser alltagsnahe Rechtschreibunterricht, der muss viel stärker Einzug halten in den regulären Deutschunterricht.“
Damit ein solch integrativer Deutschunterricht an den Schulen auch stattfindet, braucht es kontinuierliche Fort- und Weiterbildungen aller Lehrkräfte, so Julia Knopf. Wissenslücken zu schließen, sei nicht nur die Aufgabe von Bildungseinrichtungen, meint Hans Morgenthaler. Das gelte für alle.
Der 77-Jährige hat in seiner Schulzeit vieles anders zu schreiben gelernt. Trotzdem beharre er nicht darauf, sagt der Hobby-Linguist, und schreibt Fluss mit Doppel-s und Fuß mit ß, wie es der heutige Duden gemäß der Rechtschreibreform von 2006 vorgibt.
„Das finde ich sehr sinnvoll, weil man das ja beim Sprechen hört. Das habe ich mir sehr schnell angeeignet. Dann, dass man Fotografie nicht mehr mit ph schreibt, was Kindern ja auch entgegenkommt. Foto – da wird ph durch f ersetzt.“

Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Cordula Dickmeiss
Technik: Christiane Neumann
Sprecherin: Monika Oschek

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