Sportpsychiater: "Burnout ist keine medizinische Diagnose"

Frank Schneider im Gespräch mit Joachim Scholl · 10.11.2011
Die Behandlungsnachfrage habe deutlich zugenommen, sagt Frank Schneider vom Referat Sportpsychiatrie an der Universitätsklinik Aachen, das nach Robert Enkes Freitod vor zwei Jahren gegründet wurde. Man könne nicht sagen, dass Spitzensportler besonders anfällig für psychische Belastung seien, "aber die können genauso krank werden wie alle anderen auch."
Joachim Scholl: Ich bin jetzt verbunden mit Professor Frank Schneider, Leiter des Referats Sportpsychiatrie an der Universitätsklinik Aachen, eine Abteilung, die als direkte praktische Konsequenz aus dem Selbstmord Robert Enkes gegründet wurde. Guten Tag, Herr Schneider!

Frank Schneider: Guten Tag!

Scholl: Wie viele Patienten aus dem Hochleistungssport hatten Sie seit der Einrichtung dieses Referats?

Schneider: Na, es ist so, dass wir eigentlich schon immer, weil Aachen hört sich weit weg an von allem – viele haben die Manager, den Künstler, Politiker oder so, aber eben auch Sportler, und das ist nach dem Tod von Robert Enke deutlich angestiegen. Ich würde mal schätzen, dass wir 20, 25, vielleicht pro Jahr haben an Sportlern, Hochleistungssportlern.

Scholl: Die öffentliche Trauerfeier war eine der größten in Deutschland seit Konrad Adenauer. Hat dieser Schock, dass hier, also weil ein verzweifelter Mensch in den Tod ging, weil er sich seine Krankheit nicht öffentlich zu machen traute, hat dieser Schock die Bereitschaft unter professionellen Sportlern erhöht, jetzt Hilfe in Anspruch zu nehmen?

Schneider: Ganz klar ja. Also ich glaube, es ist ein Ruck durch Deutschland gegangen vor zwei Jahren. Das war ein unheimlich bewegender Moment, als 40.000 Menschen in dem Stadion von Hannover 96 saßen, geweint haben, Kerzen gehabt haben. Trauerfeiern gibt es weltweit viele, auch große Trauerfeiern gelegentlich, aber dass jemand trauert in so einem großen Rahmen, der sich suizidiert hat, selbst umgebracht hat, in der Verzweiflung, in der Not, in der Depression umgebracht hat, das gab es noch nie, weltweit nicht.

Scholl: Es gab vor Robert Enke den prominenten Fall des Fußballspielers Sebastian Deisler, der ebenfalls an Depressionen litt und schließlich sogar ganz aus dem Profigeschäft ausstieg. In jüngster Zeit hat Ralf Rangnick, der Trainer von Schalke 04 einen Burnout eingestanden und sich zurückgezogen. Ist mit der Sensibilität für das Thema denn auch das Stigma der Schwäche verblasst, das psychischen Krankheiten immer noch anhaftet in unserer Gesellschaft?

Schneider: Ich glaube ja. Wenn Sie überlegen, wenn Sie das Bein gebrochen haben, sind Sie natürlich auch schwach und können nicht mehr rumlaufen. Als Fußballspieler ist das natürlich auch fatal. Nach Rangnick – oder kurz vorher – war Herr Miller, da heißt es ja jetzt gerade, dass er auch Ende des Monats wieder zurückkommt in den Aktiven Dienst als Torwart, was natürlich auch ein gutes Signal ist.

Ich glaube, dass viele Sportler erstens in die Behandlung gehen – und das muss man unterscheiden von dem, ob sie sich outen in der Öffentlichkeit. Die Behandlungsnachfrage ist deutlich höher geworden. Das sehen wir in Aachen, das sehen wir aber auch an vielen anderen Standorten, oder auch bei niedergelassenen Psychiaterinnen, Psychotherapeuten und Psychiatern. Also viel mehr kommen in die Behandlung und sagen ganz klar: Ich will nicht so enden wie Robert Enke.

Daneben muss man unterscheiden: Gehe ich zu meinem Präsidenten vom Verein? Gehe ich zum Sportreporter und sage ich einfach, mir geht es schlecht? Das sind zwei Paar unterschiedliche Schuhe, ich weiß gar nicht, ob ich meinem Vorgesetzten sagen sollte, wenn ich eine Depression hätte oder einen Beinbruch oder was auch immer, das geht den ja im Prinzip gar nichts an.

Scholl: Wie verhalten Sie sich denn als Sportpsychiater sozusagen dann hier? Weil ich wollte Sie gerade nach diesem Unterschied fragen, also Hilfe in Anspruch nehmen und sich als öffentliche Person, die man als Hochleistungssportler nun mal ist, sich zu outen und dann wirklich einzubekennen vor der Presse, und am dann am nächsten Tag in der Zeitung zu stehen, das ist ja noch mal wirklich ein großer Unterschied. Wie reflektieren oder wie besprechen Sie das mit ihren Patienten in der Therapie?

Schneider: Wir geben grundsätzlich keine Ratschläge. Wir sagen denen nicht, wenn sie Eheprobleme haben, ob sie sich scheiden lassen sollen oder nicht, und in so einem Fall – den Sie gerade angesprochen haben – würden wir nie sagen: Oute dich in der Öffentlichkeit oder lass es bleiben. Aber es ist eigentlich so, dass bei allen Leuten, die in der Öffentlichkeit stehen – denken Sie auch an Politiker, die Mandate haben als Oberbürgermeister, als Bundestagsabgeordneter oder in irgendeiner Fraktion, dass die ganz hohe Probleme damit haben zu sagen: Ich habe eine psychische Erkrankung. Dabei ist das ja was ganz Normales, was ganz Übliches, und das kann Sie und mich und jeden Hörer auch jederzeit treffen.

Scholl: Sind Menschen in diesem Bereich des Leistungssports eigentlich besonders anfällig für psychische Krankheiten? Also sind die prominenten Fälle nur die Spitzen, hinter denen sich ein Heer von kranken Sportlern verbirgt, die tapfer die Zähne zusammenbeißen?

Schneider: Ich glaube ja. Früher hat man immer gedacht – bis vor zehn Jahren, 15 Jahren –, es ist so eine Art Selektionshypothese, das heißt, nur die Stärksten werden auch die besten Sportler. Das ist völliger Unsinn. Die besten Sportler können genau so krank werden wie alle anderen auch. Wir wissen heutzutage, dass psychische Erkrankungen Krankheiten sind, die ganz normal sind. Die können kommen wie eine Grippe, man kann überhaupt nichts dafür, aber man hat sie, und dann muss man sie ausbaden. Das heißt, die Menschen, egal ob sie nun Hochleistungssportler, Politiker oder Busfahrer sind, können diese Krankheiten bekommen.

Jetzt kann man sagen, der Druck im Sportlerleben ist besonders hoch, gerade wenn Sie an so Kaderspieler im Fußball oder so denken, aber auch bei vielen anderen Sportarten. Dieser Druck wird aber zum einen, sagen viele, kompensiert durch viel Geld. Das ist vielleicht beim Fußball manchmal so, aber nicht die Regel, und bei anderen Sportarten schon gar nicht. Aber seelischen Schmerz kann man natürlich auch nicht mit Geld sich irgendwie erkaufen. Zum Anderen ist es so, dass die Sportler natürlich trainiert sind, auch mit Stress gut umzugehen. Insofern kann man nicht sagen, dass die besonders prädestiniert wären. Also lange Rede, kurzer Sinn: Sportler können genau so krank werden wie alle anderen auch.

Scholl: Heute vor zwei Jahren nahm sich der Profisportler Robert Enke das Leben. Wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Frank Schneider, Professor für Psychiatrie und Leiter des Referats Sportpsychatrie an der Universitätsklinik Aachen.

Im Zusammenhang mit dem Burnout von Ralf Rangnick finde ich eine Betrachtung des Autors Michael Rosentritt bemerkenswert, Herr Schneider, der ein Buch über Sebastian Deisler geschrieben hat. Und Rosentritt hat neulich in einem Zeitungsartikel auf den Unterschied im Sprachgebrauch aufmerksam gemacht: Im Fall von Ralf Rangnick sei nämlich das Wort Depression nie gefallen oder ganz wenig. Es wurde immer nur vom Burnout gesprochen, und der habe eine weitaus positivere Konnotation so im Sinne von: Jemand hat bis zur Erschöpfung gearbeitet, sich eingesetzt wie ein Pferd. Das heißt, zum Burnout ist sich leichter bekennen als zur Depression. Teilen Sie diese Einschätzung?

Schneider: Das ist ganz klar. Burnout – muss man aber vielleicht ganz kurz im Vorspann vorne weg sagen – ist keine medizinische Diagnose. Es gibt ein internationales Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation, was Erkrankungen angeht, das ist von Krebs bis Beinbruch bis Depressionen, und da gibt es den Begriff Burnout nicht. Burnout hört sich aber gut an. Man hat so weit gearbeitet, wie sie gerade sagten oder gerade auch zitiert hatten, und irgendwann kann man nicht mehr. Das ist also was, was fremdbestimmt ist.

Und in der psychiatrischen Wissenschaft wissen wir seit vielen Jahren, dass es die Unterscheidung – früher machte man endogene und neurotische oder reaktive Depression – überhaupt nicht mehr gibt und auch nicht gerechtfertigt ist, weil man im Einzelfall bei einem Patienten nicht zurückführen kann, dass die Ursache dran schuld gewesen ist, dass jemand krank geworden ist, weil wir wie immer wissen, dass es eine biologische Verletzlichkeit gibt, dass es psychosoziale Stressfaktoren gibt, und es gibt eine Konstellation zu einem gewissen Zeitpunkt.

Das heißt, Burnout gibt es im Medizinischen nicht. Aber trotzdem gibt es den Begriff in der Öffentlichkeit, das haben wir natürlich zu akzeptieren – es hört sich schön an. Mich hat sehr aufgeregt und geärgert, muss ich sagen, dass der Mannschaftsarzt, ein Orthopäde, bei Rangnick damals bei der Pressekonferenz gesagt hat: Der Rangnick hat ein Burnout, das ist reversibel, und er hat keine Depression, weil eine Depression ist ja nicht wieder umkehrbar. Das ist völliger Quatsch. Jemand mit einer Depression kann völlig gesund werden, und so ist das auch der Regelfall.

Scholl: Ich meine, es gibt ja auch den Fall des Sportlers Andreas Biermann, Profi beim FC Sankt Pauli. Dieser hatte sich direkt nach dem Tod von Robert Enke ein Herz gefasst. Anlass war die Pressekonferenz, die Enkes Frau damals gegeben hat. Also er hat seine Depression öffentlich gemacht. Die Konsequenz: Er wurde arbeitslos, ist es bis heute.

Schneider: Ja, er studiert ja im Moment Psychologie. Man kann nicht sagen, ob es ihm gut geht oder nicht gut geht, aber er hat seinen Weg gefunden. Man weiß auch nicht, was ohne Depression passiert wäre. Wir wissen, dass viele Kaderspieler im Fußball sehr schnell arbeitslos werden. Hier hat es offensichtlich was damit zu tun gehabt mit der Depression. Wenn Sie noch mal auf Rangnick zurückgehen wollen: Hier war es ja auch so, dass jemand wegen einer psychischen Erkrankung, wegen einer Depression (Burnout) arbeitslos geworden ist. Rangnick hat seinen Job zurückgegeben. Das ist eigentlich ein ganz fatales Zeichen.

Jetzt muss man sagen, dass das Trainergeschäft in der Bundesliga im Fußball natürlich auch enorm zeitintensiv ist und zeitkritisch ist, da kann man nicht mal zwei Monate oder zwei Wochen ausfallen. Das gute Zeichen wäre eigentlich für mich Miller, wo Hannover 96 sich hingesetzt hat mit dem Trainer, mit dem Präsidenten und so weiter, in der Pressekonferenz gesagt hat: Miller hat eine Depression, ist jetzt krank, der kommt wieder, und dann ist er gesund. Und der kommt Ende des Monats wieder, und der wird auch wieder spielen.

Scholl: Das war Frank Schneider von der Sportpsychiatrie der Universitätsklinik Aachen. Ich danke Ihnen für das Gespräch!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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