Spiritualität und Naturerleben

Meditation in alle Himmelsrichtungen

12:49 Minuten
Ein Mann liegt mit geschlossenen Augen im Wald und meditiert.
Hören, wie der Bach rauscht: Jenseits des Alltags können wir uns für neue Erfahrungen öffnen. © Getty Images / Tetra images
Uwe Habenicht im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 14.08.2022
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In der Natur lässt sich Spiritualität besonders gut erleben, sagt der Mitbegründer der Waldkirche in St. Gallen, Uwe Habenicht. Denn dort können wir spüren, dass wir Teil von etwas anderem sind, und vielleicht ergreift es uns auch.
Anne Françoise Weber: Sommerzeit ist Urlaubszeit – und viele zieht es da hinaus in die Natur, in den Wald, die Berge, an das Meer. Das ist eine gute Methode, um dem Alltag zu entfliehen, vor allem dem Beton und der Hitze der Städte. Für manche ist es vielleicht auch ein Weg, um sich selbst anders zu erfahren und um Spiritualität wiederzuentdecken, um Gott nachzuspüren.

Holz und Steine als Lehrer

Das ist nun keine neue Idee – schon der Klosterabt Bernhard von Clairvaux schrieb im 12. Jahrhundert: „Du wirst einiges mehr in den Wäldern finden als in den Büchern. Holz und Steine werden dich lehren, was du bei den Lehrern nicht hören kannst.“
Was heißt das aber nun heute, was können uns Holz und Steine lehren, wenn wir sowieso vielleicht nicht mehr so sehr auf der Suche nach religiösen Lehren sind? Und wie kann in einer Zeit, in der Gott immer weniger Platz zu haben scheint, der Gang in die Natur doch eine Verbindung mit dem Göttlichen ermöglichen?
Darüber hat sich der evangelische Theologe und leidenschaftliche Wanderer Uwe Habenicht Gedanken gemacht. „Draußen abtauchen – Freestyle Religion in der Natur“ heißt sein Buch.

Natur als Zwischenraum

Herr Habenicht, vor zwei Jahren haben wir beide über Ihr Konzept der Freestyle Religion gesprochen, damals hatten Sie dazu ein Buch veröffentlicht. Da haben Sie schon dafür plädiert, wenn ich das mal so ganz kurz zusammenfassen darf, Religion flexibler zu denken und zu leben und eine ganz persönliche Spiritualität jenseits von Kirchen- oder anderen Dogmen zu finden.
Und jetzt geht es also darum, das in der Natur zu tun. Denn die Natur ist ein Zwischenraum – das sagen Sie in Anlehnung an den englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott. Was heißt das denn, wozwischen liegt dieser Raum?
Habenicht: Zunächst einmal ist ja die Natur für uns ein Raum, den wir außerhalb unseres Alltags betreten. Das heißt, wir verlassen unsere gewohnten Räume und gehen hinaus – das Packen des Rucksacks, das Abschließen der Haustür, dann das Losgehen. Das heißt, wir betreten etwas Neues, weil wir etwas Altes hinter uns lassen.
Ein lächelnder Mann mit schütterem dunklen Haar steht in der Sonne.
Abtauchen im Zwischenraum: Der Schweizer Pfarrer Uwe Habenicht findet Spiritualität in der Natur.© privat
Ich glaube, dass wir, wenn wir genau hinschauen, ja sehen, wie viele Menschen sich danach sehnen, Alltagslogiken hinter sich zu lassen und Bereiche zu betreten, die noch mal anders funktionieren als das, was sonst unseren Alltag prägt.
Weber: Aber dann ist es ein anderer Raum, dann ist es kein Zwischenraum.
Habenicht: Ja, es ist insofern ein Zwischenraum, als wir von diesem anderen Raum aus auf uns blicken und uns ja auch ein Stück mitnehmen. Das heißt, wir lassen natürlich das Alte hinter uns und nehmen uns zugleich aber auch mit, haben aber die Chance, uns in diesem Zwischenraum, wie ich es nenne, noch einmal anders und neu zu erleben – und auch noch einmal anders auf das Normale zu blicken. Dieses Dazwischen, das macht eigentlich die Qualität aus, mit der Spiritualität, würde ich sagen, beginnt.

Ein Tor zur Spiritualität

Weber: Warum? Dieses Rauskommen, anders auf sich selbst zu blicken, das können, glaube ich, sehr viele Menschen teilen und mitmachen. Aber ich denke, es gibt auch viele Menschen, die sagen: Was hat das jetzt mit Spiritualität zu tun? Mit dem Kapitel habe ich sowieso abgeschlossen, da finde ich eh nichts für mich.
Habenicht: Wir haben uns ja leider angewöhnt, Spiritualität sehr eng zu fassen. Ich verstehe das nicht als einen kirchlich oder theologisch vereinnahmten Begriff, der sozusagen nur im kirchlichen Raum zu Hause ist, sondern Spiritualität meint, dass wir uns als Menschen noch mal neu sehen und neu erleben können, jenseits von Alltagsrationalität.
Das bedeutet, dass, sobald ich eben diesen alten Raum des Normalen verlasse, ich die Chance habe, Teil von etwas zu sein, was ich sonst eben nicht erlebe. Das ist für mich das Tor, das sich öffnet in Richtung Spiritualität.

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In der Regel beginnt das ja mit sehr, sehr einfachen Dingen, dass ich einfach hinausgehe, mich auf einen Stein irgendwo hinsetze und plötzlich Dinge wahrnehme, die immer schon da waren, ich aber praktisch nie wahrgenommen habe.
Weber: Da können wir den Begriff Achtsamkeit reinbringen, der ist gerade sehr in Mode. Wo ist da die Abgrenzung zur Spiritualität oder was geht da über die Achtsamkeit hinaus bei Ihnen?
Habenicht: Die Achtsamkeit ist für mich eine Vorstufe des Spirituellen. Ich habe jetzt sehr intensiv mit Michael Huppertz im Gespräch das noch einmal abgetastet, wo diese Grenzlinie verläuft, die ist auf jeden Fall fließend, aber Spiritualität wäre schon noch einmal mehr als Achtsamkeit.
Achtsamkeit heißt für mich zunächst erst einmal, dass ich wieder Teil werde von etwas, was über mich hinausgeht, dass ich etwas wahrnehme, dass ich mir Zeit nehme, mich entschleunige.
Das Religiöse oder – streng genommen – das Religiöse-Spirituelle beginnt aber da, wo ich weiß, dass ich mich in einem Raum befinde, wo eine Gegenwart von etwas anderem mir noch einmal so nahekommt, dass es mich auch wirklich verändert und auch mich sozusagen ergreift.

Jenseits von gefunden oder erfunden

Das Religiöse hat immer diese Komponente des Ergriffen-Seins. Das wäre auch der Unterschied zur Achtsamkeit. Achtsamkeit ist zunächst erstmal eine menschliche Übung, eine menschliche Tätigkeit, und dann kann das aber weitergehen und kippen, indem mich etwas ergreift und mich etwas leiblich affektiv betrifft, sodass ich spüre, hier wirkt noch einmal etwas deutlich über mich hinaus.
Weber: Und ist die Natur dann auch ein Zwischenraum zwischen dem, was mich ergreift, diesem ganz Anderen, und meiner Welt?
Habenicht: In jedem Fall. Das Besondere und die Grundidee dieses Zwischenraumes liegt ja darin, dass mir in dem Üblichen eben diese Erfahrungen nicht gelingen, weil ich anders eingestellt bin, weil ich eine andere Haltung mitbringe. Das heißt, ich muss einen Raum betreten, Winnicott beschreibt das sehr schön, in dem das Kind einen eigenen Raum schafft, in dem noch einmal neue und andere Gesetze wirken.
Das heißt, in dem eigentlichen Naturraum öffnet sich für mich noch einmal ein neuer Raum, in dem, Winnicott sagt das so schön, die Frage "Hast du das erfunden oder hast du das gefunden?" nicht gestellt werden kann.
Das heißt, es ist ein Raum, in dem Objektives und Subjektives so ineinanderfließen und so ineinandergehen, dass für mich als Subjekt sich noch mal etwas ganz Neues ergeben kann. Das ist, glaube ich, das Besondere.

Ein neuer Raum eröffnet sich

Insofern ist das gut, dass Sie das noch einmal so genau fragen: Der Naturraum an sich ist erstmal der andere Raum, aber in diesem anderen Raum kann ich mir noch einmal einen neuen Raum eröffnen, in dem sich dann eben auch etwas ereignen kann, was im Normalen sich fast nie ereignet.
Weber: Und was auch eine bestimmte Vorstellung von Gottesbeziehung beinhaltet, dass Gott eben nicht nur das völlig Andere und weit Entfernte ist, sondern dass Gott auch irgendwie in mir, in meiner Vorstellung ist. Genau diese Frage: "Habe ich ihn erfunden oder habe ich ihn gefunden?", die stellt sich nicht, sondern er ist irgendwie da. "Er" zu sagen, ist ja auch schon eine Festlegung, aber egal, er oder sie ist irgendwie da, und es ist eine Begegnung möglich.
Habenicht: Ja, die Vorstellung wäre auf jeden Fall, dass wir versuchen, das Göttliche so offen zu halten, dass wir es nicht zu sehr im Vorhinein schon festlegen, weil wir dann vielleicht enttäuscht sind, weil wir was ganz anders erleben. Das Göttliche wäre in jedem Fall etwas, dass mich so ergreift und mir so begegnet, dass sich für mich auf mich selber und auf mein Handeln noch einmal neue Perspektiven ergeben.
Es gibt einen schönen Satz von Otto, der sagt: Das Religiöse muss immer auch Konsequenzen haben, sonst ist es ein Spuk. Wenn mich Gott ergreift und das hat keine Konsequenzen, das heißt, es verändert mich nicht, dann war es etwas anderes. Aber Gottesbegegnung heißt, dass ich mich in meinem Selbst- und Weltverständnis noch einmal deutlich verändere und verändert werde.

Meditieren mit Luther

Weber: Jetzt ist ja die Frage: Wie komme ich zu so einer Gottesbegegnung? Das reicht ja wahrscheinlich nicht, nur einfach durch den Wald zu spazieren, sondern es ist ganz hilfreich, wenn man da auch gewisse Techniken oder Herangehensweisen hat. Interessanterweise berufen Sie sich ausgerechnet auf Martin Luther, der ja nun wirklich ein Theologe des Wortes ist, und nehmen eine Technik von ihm, nämlich das vierfache Kränzlein, und wenden das nicht auf ein Bibelwort an, sondern auf die Natur. Können Sie uns erklären, wie das funktioniert?
Habenicht: Die Grundidee von „Draußen abtauchen“, von diesem neuen Buch, besteht darin, dass ich sage: Das, was wir sonst mit der Heiligen Schrift tun, dass wir einzelne Worte meditieren, das müsste doch auch mit Naturerfahrungen möglich sein. Die Grundidee ist, dass wir eine Erfahrung nehmen, die wir irgendwo in der Natur machen, dass wir das Wehen eines Windes oder das Rauschen eines Baches als etwas nehmen, das uns direkt anspricht.
Dann hat Martin Luther eben eine sehr einfache Methode entwickelt, dass er sagt: Zuerst versuche ich, wahrzunehmen, was da geschieht, wirklich zu sehen, zu riechen, zu schmecken, wirklich wahrzunehmen. Im Zweiten versuche ich dann, mich zu fragen: Wo gibt es einen Aspekt der Dankbarkeit, wenn ich das wahrnehme. Ein dritter Aspekt ist zu sagen: Wo spüre ich, dass vielleicht etwas nicht gut ist, wo etwas Störendes, etwas Trennendes ist – und im Vierten dann eine Bitte zu formulieren.

Waldkirche ist mehr als Gottesdienst draußen

Dieses Schriftprinzip auf die Natur anzuwenden, heißt eben, den Naturerfahrungen in diesem Zwischenraum noch einmal etwas ganz Eigenes, Subjektives abzugewinnen, was eben nicht objektiv nachvollziehbar ist – deswegen auch diese Frage: "Ist es gefunden oder ist es erfunden?" –, das kann man nicht; aber mich ansprechen zu lassen, und das aber methodisch eben so zu machen, dass ich mir dafür hinreichend Zeit nehme.
Weber: Und das kann man allein tun, man kann das aber vielleicht auch in Gemeinschaft tun. Sie haben zusammen mit anderen in St. Gallen, wo Sie Pfarrer sind, eine Waldkirche ins Leben gerufen. Da geht es, soweit ich das verstehe, eben auch um diese Natur- und Gotteserfahrung. Wie funktioniert das?
Habenicht: Die St. Galler Waldkirche, die jetzt schön schweizerisch WaldGwunder heißt, ist Teil dieser Forest-Church-Bewegung, das kommt aus dem anglikanischen Raum. Die Idee ist jetzt nicht, dass wir einfach nur das, was wir sonst drinnen machen, draußen machen, sondern dass wir uns als Gruppe der Natur annähern und dann aber diese Räume, die ich beschrieben habe, diesen intermediären Zwischenraum, dass wir den gemeinschaftlich und/oder auch individuell betreten.

Gemeinsam anfangen, individuell weitermachen

Das heißt, das Besondere dieser Waldkirche ist, dass es nicht irgendwie ein Programm gibt, das einfach abläuft, sondern dass die Menschen, die kommen, gemeinsam beginnen, gemeinsam schließen und zwischendrin aber die Möglichkeit haben, selber zu wählen, welchen Zugang sie zur Natur und zu welchen Erfahrungen machen möchten, sodass wir ein Potpourri an Methoden, an Angeboten – Biotope nennen wir das –, an Erfahrungsräumen mitbringen.
Und dann kann jeder und jede einzelne für sich entscheiden, was für sie dran ist, ob es etwas Einzelnes ist, etwas Interaktives ist, etwas Stilles ist, etwas Experimentelles ist, da ist das Feld dann sehr weit.
Weber: Das klingt spannend. Sie bieten das viermal im Jahr an – wenn wir aber jetzt nicht gerade in St. Gallen sind und auch sonst keine Waldkirche in der Nähe ist, mal ganz praktisch: Im Familienurlaub ist gerade mal eine halbe Stunde Zeit, allein im Wald zu sein, was wäre Ihr Tipp, was kann ich tun, um mich ein bisschen in diesen Zwischenraum zu begeben, ihn wahrzunehmen, vielleicht auch eine Spiritualität zu spüren, die sonst so ganz weit verschwunden ist?
Habenicht: Ich glaube, eine der einfachsten und schönsten Übungen ist, sich zu verteilen, dass jeder mal für sich irgendwo steht, die Augen zu schließen und einfach mal zu spüren und zu hören, was um einen herum geschieht, und sich dann nach einer Weile um eine Vierteldrehung zu drehen und zu schauen, was sich verändert.

Langsam werden und die Sinne schärfen

Diese Himmelsrichtungsübung finde ich so toll, weil wir ganz langsam werden, ganz aufmerksam werden und aber Veränderungen auch wahrnehmen, weil sich eben unsere Ohren und unser Gesicht sozusagen immer wieder neu dem Wind zuwenden.
Das wären sehr einfache Übungen, mit denen wir das Tempo herausnehmen, die Sinne schärfen. Und wenn wir dann noch anfangen, uns zu fragen, was das bedeuten könnte, was wir da erleben, dann öffnet sich das Tor zu einer Spiritualität.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Uwe Habenicht: "Draußen abtauchen. Freestyle Religion in der Natur"
Echter Verlag, Würzburg 2022
192 Seiten, 16,90 Euro

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