Spiritismus und Übersinnlichkeit

Wegweiser ins Jenseits

07:46 Minuten
Schwarzweißfotografie einer weiblichen Hellseherin, die eine brennende Kerze in der Dunkelheit hält.
In Reichweite einer anderen Welt: Hellseherin lauscht ins Dunkel. © picture alliance / Bildagentur-online / Jorgensen
Helmut Zander im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 14.11.2021
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Früher war klar: Fragen nach dem Jenseits beantwortet die Kirche. Heute darf das jeder, und so blüht die Szene der spiritistischen Medien. Wahr oder falsch – das sind da nicht die richtigen Kategorien, sagt der Religionswissenschaftler Helmut Zander.
Kirsten Dietrich: Wir loten heute die Grenzen des Übersinnlichen aus und sind unterwegs auf den schmalen Pfaden zwischen dieser Welt und möglicherweise vielen anderen. Dazu habe ich mir einen kompetenten Wegweiser gesucht, nämlich den Religionswissenschaftler Helmut Zander. Er forscht an der Universität Fribourg in der Schweiz über Geister und Jenseitswelten und darüber, was die Suche danach eigentlich antreibt. Warum ist das überhaupt noch so ein Thema – die Suche nach Kontakt ins Jenseits dieser Welt?
Helmut Zander: Weil natürlich die Frage nach dem Tod nie endet. Deshalb kann man die Dimension der Jenseitskontakte nicht wirklich wegbekommen. Es gibt natürlich Menschen, die Atheisten, Agnostiker sind, die das nicht interessiert, aber die meisten Menschen tragen diese Frage dann doch mit sich herum.

Debatten an einer umstrittenen Grenze

Dietrich: Diese Grenze zwischen diesseits und jenseits, das ist ja eine umstrittene Grenze und auch eine bewachte Grenze. Warum ist das so?
Zander: Vermutlich hängt es damit zusammen, dass man die Erfahrung gemacht hat, dass man Fake und Realität auseinanderhalten muss. Es gibt natürlich Menschen, die Erfahrungen machen, von denen wir am Ende sagen, das kann so irgendwie nicht sein, und es gibt Erfahrungen, von denen andere Menschen sagen, wir wissen nicht, wie wir die einordnen sollen. Und dann gibt es Debatten darüber, was stimmt und was nicht, das ist genau die Debatte über die Grenze, über die Sie gerade sprechen.
Da gibt es natürlich eine lange Tradition. Man hat das lange versucht, in einem sozusagen großkirchlichen Rahmen zu regeln. Die Zeit ist inzwischen vorbei, wir haben einen sehr offenen, sehr freien Markt, auf dem klassische Anbieter, sag ich mal, nur noch eine Gruppe sind. Und deshalb haben wir inzwischen eine hohe Pluralität an Jenseitsdeutungen und eben Kontroversen über diese Grenze.

Medien für den Kontakt ins Jenseits sind en vogue

Dietrich: Dann reden wir doch mal über diese neuen Jenseitsdeutungen. Da gibt es ja verschiedene Möglichkeiten, sich diesen anderen Welten zu nähern, zum Beispiel über neue Vermittler, neue Wegbegleiter, Medien, in welcher Form auch immer, also Menschen, die diesen Kontakt vermitteln können.
Zander: Ja, Medien sind inzwischen richtig en vogue. Es gibt in der Schweiz bei uns etwa 20 Schulen, in denen Sie sich zum Medium ausbilden lassen können, wenn Sie sozusagen professionell einen Kontakt mit dem Jenseits aufnehmen wollen. Das ist dann doch eine relativ neue Einrichtung. Die reagiert auf den Druck der Naturwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert.
Die Hand einer Wahrsagerin zeigt auf ein Foto mit einer Aura Fotografie.
Im Laboratorium des Übersinnlichen: Aura Fotografien warten auf ihre Deutung.© picture alliance / Godong / Robert Harding
Vorher waren Jenseitserfahrungen Dimensionen der Theologie, der Gewissheit, der Plausibilität, manchmal des Wissens. Seit dem 19. Jahrhundert ändert sich ganz viel, weil man mit den Naturwissenschaften den Eindruck hat, man müsse die Dinge jetzt beweisen, empirisch sozusagen – wiederholbar, belegbar, wie im Laboratorium.
Die spiritistische Szene, in der diese Medien ausgebildet werden, für die sie arbeiten, die verlangt nun mehr als Glaube und Gewissheit und Wahrscheinlichkeit, sondern man zielt darauf, empirisch nachzuweisen, dass es diese jenseitige Welt gibt. Und genau das passiert bei ganz vielen Medien: Sie erheben den Anspruch, im Grunde auf Augenhöhe mit den Naturwissenschaften zu arbeiten.

Beim Kontakt mit Geistern gibt es kein einfaches Ja oder Nein

Dietrich: Aber ist das nicht eine Selbsttäuschung? Mir jedenfalls, mit meinem Blick von außen, kommt das alles nicht unbedingt faktengetrieben vor.
Zander: Als Religionswissenschaftler ist einem die Antwort verwehrt, ob das stimmt oder nicht. Was wir machen, ist beobachten, und wir nehmen wahr, was Menschen denken. Und ich kann nur sagen: Manche Menschen sagen, das ist einfach so, ich kann nicht anders, ich spreche mit denen und lege auch Belege dafür vor. Und natürlich gibt es die kritische Fraktion, die sagt: Das ist alles innere Selbsttäuschung, das ist Fake, das ist Illusion, das ist fehlende Kritik.
Ich würde immerhin sagen, dass es eine Menge Phänomene gibt, die sich ganz schwer in unser Weltbild einordnen lassen. Wie ich die dann bewerte, ist eine wirklich schwierige Frage.
Tarot-Karten, die auf dem Tisch liegen.
Traditionelles Instrument der spirituellen Wahrheitssuche: Tarot-Karten.© picture alliance / Zoonar / Angelica Corneliussen
Dietrich: Es gibt ja noch eine andere Methode, sich dem Jenseits nach dem Tod zu nähern, indem man nämlich einfach versucht, das technisch in den Griff zu bekommen. Also aus digitalen Daten und Aufzeichnungen von Verstorbenen eine Art digitale Präsenz zu konstruieren, mit der man sich dann – das ist jedenfalls das Versprechen – weiter unterhalten kann. Ist das von einem ähnlichen Bemühen getrieben?
Zander: Ja, das ist genau Teil dieser Verwissenschaftlichung, dieser Technisierung der Jenseitskontakte. Es ist der Versuch, mehr zu wissen als das, was auf persönlichen Begegnungen, auf persönlichen Beziehungen beruht, sondern durch die Hilfe von Technik einen Beweis hinzubekommen, eine Verlässlichkeit.

Jeder darf heute das Jenseits deuten

Dietrich: Warum ist diese Sehnsucht eine, die immer noch so aktuell ist, die ja geradezu blüht, wie Sie sagen?
Zander: Diese Sehnsucht ist schlicht und ergreifend deshalb so aktuell, weil die Toten und der Tod nicht aus unserem kulturellen und individuellen Gedächtnis verschwinden. Was sich verändert hat, ist eine rasante Pluralisierung der Gesellschaft. Die Kontrolle von Religion funktioniert heute nicht mehr so wie noch vor 100 oder 150 Jahren. Wir haben eine wirklich effektiv durchgesetzte Religionsfreiheit, und jede und jeder kann versuchen zu denken, zu erkunden, zu erfahren, was sie oder er will. Und das ist ein hoch dramatischer Wandel, jedenfalls für die deutsche und die mitteleuropäischen Gesellschaften, verglichen mit dem 19. Jahrhundert.
Damals war der Zugang zum Jenseits, ich sag mal, durch großkirchliche Wächter reglementiert, bewacht, auch geschützt, da wurde auch viel, in Anführungszeichen, "Unfug" eliminiert, aber diese Kontrollfunktion ist weg. Wenn wir heute noch etwas haben, so sind es die Gesetze, die für alle gelten. Also: Man darf keine Menschen dabei zu Schaden kommen lassen, man darf im Grunde nicht lügen, man muss Standards einhalten. Aber eine spezifisch religiöse Kontrolle dieses Feldes existiert nicht mehr.
Das macht diese Welt unglaublich bunt, weil jede und jeder ausprobieren kann, was passiert, wenn ich mich in eine Meditation begebe, wenn ich ein Medium konsultiere, wenn ich versuche, etwas über das Jenseits zu erfahren. Das ist eine sehr spannende, sehr dramatische Wendung, die wir genommen haben. Aber wir haben letztendlich dann wenig Möglichkeiten im Moment, die Frage zu beantworten, stimmt das oder nicht.
Wir können uns allenfalls um die Frage kümmern, ist das verlässlich, ist das nicht so, verletzt das Gesetze oder auch nicht, aber ansonsten sind wir frei, Jenseitskontakte aufzunehmen und zu deuten, wie wir wollen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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