Spiel der Kreativität

04.11.2011
Beckett, Kafka, Gertrude Stein: Das sind die Ikonen, mit denen Lydia Davis verglichen wird. Davis wurde 1947 geboren und ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Amerikas. In ihrer neuen Story-Sammlung hat sie ihr Verfahren der Plot-Reduktion bei hoher Anspielungsdichte verfeinert.
Wie individuell sind unsere stärksten Gefühle? Zum Beispiel Trauer: Wird da nicht unsere Persönlichkeit in unvergleichlicher Weise ergriffen, belastet und geprüft? Sind wir, wenn der Verlust eines geliebten Menschen bevorsteht, nicht in ganz besonders inniger Weise mit unserm Innern, unserer Art des Denkens und Empfindens verbunden? In Lydia Davis' Geschichte "Wie werde ich trauern?" klingt das auszugsweise so: "Werde ich das Haus sauber halten, wie L.? Werde ich eine unhygienische Gewohnheit entwickeln, wie K.? Werde ich beim Gehen leicht hin und her schwanken, wie C.?"

Zwei Seiten lang geht das in dieser Art weiter, Vergleiche in Form von Fragen, und am Ende ist der Leser ins Zentrum des Problems vorgerückt: Es gibt für den Schock des Abschieds keine Prophylaxe. Es bleibt nur die Orientierung am Außen, am Bekannten, ja Klischeehaften, weil das Innere aus den Fugen gerät. Zwei Seiten, und das ist schon eine der längeren Storys: Davis ist eine Virtuosin der Kurz- und Kürzestform. Ihre Erzählungen kondensieren menschliche Erfahrung in Prosa, die bisweilen die Länge von Aphorismen nicht überschreiten. "Mutters Reaktion auf meine Reisepläne" besteht aus einer Zeile: "Gainsville! Zu schade, dass dein Cousin tot ist!" Eine Welt an Beziehungskonstellationen, familiären Sonderheiten, psychologischen Kraftfeldern tut sich in dieser Miniatur auf; ein ganzer Familienroman ließe sich daraus entwickeln.

Oder "Schlaflosigkeit": "Mein Körper schmerzt so - es muss dieses schwere Bett sein, das von unten gegen mich drückt." Ganz dicht und abgeschlossen ist dieser Erzählraum, rhythmisch und klanglich perfekt verfugt. Und gleichzeitig offen für die Imagination des Lesers: Was klingt nicht alles an in dieser absurden Überlegung vom widerständigen Bett - Lebensangst, Selbstverkennung, Narzissmus.

Davis hat ihr Verfahren der maximalen Plot-Reduktion bei gleichzeitig höchster Anspielungsdichte in vielen Hundert Prosastücken verfeinert; in Amerika verehrt sie ein kleiner, aber illustrer Kreis an Lesern (darunter Jonathan Franzen und Dave Eggers) als Nachfahrin von Samuel Beckett und Kafka. Tatsächlich ist ihre Arbeit geschult an der Ästhetik der Hochmoderne: Texte, die jenseits süffiger Dramaturgien mit Krise, Auflösung und Happy End ein Sujet zugleich darstellen und verrätseln, die von etwas erzählen und dabei das Medium ihrer Erzählung - die Sprache - neu, befremdend, ja unheimlich erscheinen lassen.

Dass der Grazer Droschl-Verlag diese Schriftstellerin in schön gestalteten und exzellent übersetzten Ausgaben auf Deutsch zugänglich macht, beweist verlegerische Hingabe, bewusst am Marktkalkül vorbei. Denn es stimmt, was der amerikanische Starkritiker James Wood über Davis sagte: Sie ist ein "writer's writer", eine Autorin für Autoren. Aber zum Autor, verstanden als Akteur im Spiel der Kreativität, wird man als Leser von Davis ganz leicht: Man verstrickt sich in die Logik ihrer Geschichten - und spinnt sie selber weiter aus.

Besprochen von Daniel Haas

Lydia Davis: Formen der Verstörung
Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer
Droschl, Graz 2011
273 Seiten, 22,00 Euro
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