SPD, Linke und AfD im EU-Wahlkampf

Die EU stärken - oder gleich abschaffen?

29:29 Minuten
Wahlplakate zur Europawahl 2019 in Oberhausen
Wahlplakate zur Europawahl 2019 in Oberhausen © www.imago-images.de / Revierfoto
Von Nana Brink, Henry Bernhard und Vivien Leue · 19.05.2019
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Sie wollen die Menschen für die Europawahl begeistern: Nicolaus Fest (AfD), Katarina Barley (SPD) und Martin Schirdewan (Linkspartei). Doch kann das gelingen, wenn eine Partei die EU äußerst kritisch sieht - und die andere bei 16 Prozent liegt?
Nicolaus Fest steht mit einem Plastikbecher Bier in der Hand vor dem Absperrgitter. Der Feind ist überall – und er in seinem Element. Vor ihm das NPD-Plakat, hinter ihm die Antifa.
"Wir werden damit zu recht kommen. Und wir werden ja immer mehr, mehr Mitglieder, alles versucht man, kurz und klein uns zu verleumden. Wir sind keine Nazis! Das ist das Wichtige. Dahinten stehen sie! Wenn neun Millionen die AfD wählen, dann können es nicht alles Nazis und Faschisten sein. Völlig richtig! "

"Die Leute sind dabei, es ist eine Freude"

Nicolaus Fest nickt, setzt sein etwas spöttisches Lächeln auf. Ein schmaler Mann neben bulligen Ordnern und grölenden Fans.
"Wir legen einen super Wahlkampf hin, die Leute sind dabei, nee, es ist eine Freude. Europa ist schon eine Herzensangelegenheit, aber nicht so det Europa, wie es sich darstellt, dass wir praktisch malträtiert werden aus Brüssel, dass wir für andere Länder auch noch zahlen müssen, der Zahlmeister Europas sind."
AfD-Kandidat Nicolaus Fest steht im EU-Wahlkampf vor blauen AfD-Plakaten auf einer Bühne.
"Ihr werdet nichts zu lachen haben!" Nicolaus Fest (AfD) bei seinem Wahlkampfauftritt in Berlin-Pankow zu den anwesenden Antifa-Demonstranten.© Nana Brink
Die Polizei hat das Mai-Fest der AfD in Berlin-Pankow mittlerweile komplett abgeriegelt. Nicolaus Fest, auf Listenplatz 6 seiner Partei für die Europawahl, genießt die Wagenburg-Stimmung. Wir sind wie Asterix und Obelix, wir sind das gallische Dorf, - brüllt ein Mann mit dicken Silberketten um den Hals und reckt die tätowierte Faust. Nicolaus Fest’ Gesicht zeigt keine Regung. Lässig lehnt er sich an einen LKW. Gleich wird er auf den Anhänger springen. Und oben stehen in seinem feinen Jacket und den Lederschuhen - und auch die Faust ballen. Und die Tonlage vorgeben für seinen Wahlkampf.
"Liebe Antifanten, ich weiß, ihr schreit da rum und ihr habt recht, der Klimawandel ist ein großes Thema, aber vor allem der gesellschaftliche Klimawandel, der jetzt gerade passiert und ich sage euch, wenn die Eisbärenbabies noch auf den Schollen spielen, werdet ihr schon lange Geschichte sein, denn jetzt wandelt sich das gesellschaftliche Klima in Deutschland und ihr werdet nichts zu lachen haben!"
Der Bürgersohn im Wahlkampf: "Andra moi ennepe, Musa. Das ist mein Satz, um die Sprachsteuerung des Handys zu aktivieren, das ist der erste Satz aus der Odyssee auf Altgriechisch, und das heißt: Nenn mir den Namen, Muse, von Odysseus, ich fand das ganz schön, nenn mir den Namen."

Wahlkkampf in Sachsen-Anhalt - Hochburg der AfD

Nicolaus Fest auf Wahlkampftour. Nicht nur im proletarischen Berlin. Sondern auch in Sachsen-Anhalt, da, wo "wir die Linken vom Thron geholt haben". Er lächelt. Sachsen-Anhalt, eine AfD-Hochburg: Mehr als 24 Prozent holt die Partei bei der letzten Landtagswahl im März 2016. Ein halbes Jahr später tritt Fest der AfD bei. Ein Kommentar, in dem er den Islam als Integrationshindernis bezeichnet, kostet ihn den Job als Vize-Chefredakteur bei der "Bild am Sonntag". Die AfD nimmt ihn mit Kusshand. Weil ein Raunen durch die Presse geht. Seht her, der brave Bürgersohn spielt mit den Schmuddelkindern! Sein Vater, der große Joachim Fest, intellektuelles Urgestein der alten Bundesrepublik, würde er sich im Grabe umdrehen?
"Das ist mir zu romantisch, ich will Politik machen und gestalten. "
Zum Beispiel in Wittenberg. Der Ortsverband hat ihn für einen Vortrag geladen. Wie oft er schon in diesen Hinterzimmern der Republik gesprochen hat, weiß er nicht. Das Thema in diesen Wochen ist immer das gleiche: Er soll sagen, was die Partei, die einst von Euro-Skeptikern gegründet wurde, mit Europa am Hut hat.
"Glücklicherweise ist die AfD jetzt schon so erfahren in Sachen Wahlkampf, dass man auch dort weiß, welche Knöpfe zu drücken sind. Läuft gut. Europäische Kulturlandschaft des 21 JDH - blöde Windräder!"
Mißbilligend blickt Fest auf die Rapsfelder. Als er vor der ehemaligen HO-Gaststätte hält, ist keiner zu sehen. Kein Plakat, keine Gäste. Nicolaus Fest lächelt dünn.
"Hi, Tach, Fest mein Name. Schön, dass Sie da sind. Tach, hallo! Wir freuen uns immer, wenn wir einen Kandidaten haben, der ein bisschen bekannter ist und die sich anstrengen. Wir hatten noch versucht, ein paar Plakate für die Veranstaltung zu machen, es wurde uns leider von der Stadt untersagt, schwierig."

"Es geht auch um Krieg und Frieden", sagt Fest

Fast ist es dem AfD-Landtagsabgeordneten Matthias Lieschke peinlich, dass nur rund 20 Gäste gekommen sind. Rentner, Handwerker, Selbstständige. Sie starren unverhohlen und ein wenig mißtrauisch auf den schlanken Mann in seinem dunkelgrünen, enganliegenden Anzug. Der sieht ja aus wie der Maas, witzelt einer. Nicolaus Fest weiß, was er jetzt sagen muss.
"Ich freue mich sehr, dass ich hier bin. Ganz überraschend werde ich heute über die Europawahl sprechen. Warum Sie am 26. Mai nur eine einzige Partei wählen können, selbst unsere politischen Gegner behaupten diesmal, es sei eine Schicksalswahl. Es geht auch um Krieg und Frieden".
Bei Fest geht es immer um Krieg und Frieden in diesem Wahlkampf. Und um den Kampf gegen Brüssel.
"Es geht eben auch darum, ob wir einen kollektiven Superstaat bekommen, totale Willkür bekommen, also ob das Rechtssystem noch gelten soll und es geht auch darum, ob unsere Stimme in diesem Land noch etwas wert ist oder ob die Demokratie abgeschafft wird und alles in Brüssel entschieden wird."
Die EU als gescheitertes Projekt. So geht das eine Stunde lang. Migrationspakt, Rettungsschirm, Strukturfond, Juncker, Macron, Merkel – zack, zack. Seine Kritik ist vernichtend. Die EU ist für ihn ein gescheitertes Projekt. - Was wollen Sie noch wissen? Die Zuhörer stauen. Dann trauen sich einige, etwas zu sagen.
"Ja wir zahlen ja auch an die EU - oder nicht? Woher kriegt denn die EU das Geld? Ich bin seiner Meinung, wo kriegt denn die EU das Geld her? Europa ja, aber ich möchte Deutscher bleiben, sind ja viele etablierte Parteien, die ja Deutschland eigentlich abschaffen wollen, wir sind nur noch der zahlende Punkt in Europa.Weil die Unzufriedenheit in Deutschland ist so groß, das hören wir nicht im Fernsehen, das hören wir nicht im Radio, das hören Sie nur auf der Straße! "

Zwei Milliarden Euro für Sachsen-Anhalt

Oder bei ihm, Nicolaus Fest. Er lächelt sein überlegenes Lächeln. Ich habe verstanden, ruft er. Hier ist meine Botschaft: Wir sind die Problemlöser! Die Zuhörer nicken. Wir werden die EU ändern! Wieder nicken alle. Wir werden nicht mehr zahlen! Beifall. In diesem Gaststätten-Wahlkampf geht es nicht um Fakten. Auch nicht um Zahlen. Zum Beispiel um diese: zwei Milliarden Euro. So viel bekommt Sachsen-Anhalt in der Förderperiode 2014 bis 2020 allein aus den EU-Fonds für regionale Entwicklung und Beschäftigung. Nicolaus Fest weiß das. Aber er sagt es nicht, als er eine halbe Stunde später in seinem knitterfreien Anzug zwischen den Gästen steht.
"Ich habe 47 Jahre gearbeitet, für mein bisschen Rente muss ich Steuern bezahlen, das ist zum Kotzen, so was darf es doch nicht geben! Ich weiß, ja klar. So was muss doch angesprochen werden von der AfD, dass man sagt, das ist nicht ok. Aber am Ende des Jahres haben wir den Bundesparteitag zum Sozialkonzept."

Der Abend läuft gut für Fest

Besser könnte es an diesem Abend nicht laufen. Alle Blicke sind auf ihn gerichtet - und Nicolaus Fest holt wieder dieses gönnerhafte Lächeln hervor: Liebe Leute, ihr wisst doch, was die wollen.
"Sie wollen mehr Einwanderung, Kurzformel: Alle rein, keiner raus, Deutschland zahlt! Weil die aufnehmende Gesellschaft hat dann nicht mehr das Recht zu sagen: Nein, wir wollen dich nicht, das heißt, er kann rein kommen und an allen wesentlichen Sozialleistungen teilhaben! Und deshalb ist diese Wahl am 26. Mai wirklich extrem wichtig, weil wir hier eine Stimme abgeben, weil wir müssen dorthin, um wirklich was zu verändern. "

"Ich denke, das war ein guter Schluss, denn der Herr Fest muss noch weiter reisen, es war für alle informativ, ich glaube, jeder weiß jetzt, wo er seine Kreuze machen muss. Wenn nicht, wäre ich enttäuscht!"
"Tschüß, ja sehr nette Leute, alles toll."
Nicolaus Fest – ganz Bürgersohn – zeigt Contenance. Natürlich ist er enttäuscht. Dass nur 20 gekommen sind, um ihn zu hören.
"Das ist sehr unterschiedlich, mal spricht man vor 300 Leuten, und mal spricht man vor 20. Jetzt fahren wir nach Zerbst in die Gartenstraße 21."

Jugendarbeitslosigkeit - ein Versagen der EU

Als Nicolaus Fest vor dem ehemaligen Marstall-Gebäude des alten Zerbster Schlosses ankommt, begrüsst ihn Dirk Tischmeier, der Vorsitzende der Ortsgruppe.
"Der Zerbster ist träge, die AfD ist ganz neu, uns gibt es ja erst seit einem Jahr hier. Okay. Die Ortsgruppe hat sich erst im August letzten Jahres gegründet, wir treten zum ersten Mal zur Kommunalwahl an. "
Ein paar Dutzend Gäste sitzen verloren in den Stuhlreihen. Es dauert nur einen kurzen Moment und Nicolaus Fest schaltet um in den Wahlkampf-Modus, statt hinter das Rednerpult zu gehen, sucht er die Nähe.
"Fangen wir an? Man hört es? Lauter? Kommen Sie doch nach vorne! Vielen Dank für die Einladung."
Dann folgt der Fest–Akt. 60 Minuten Fundamentalkritik. Jugendarbeitslosigkeit – ein Versagen der EU. Das Ende der Solarindustrie in Sachsen-Anhalt – ein Versagen der EU. Und – um seinem Ruf als Scharfmacher gerecht zu werden – teilt er gegen EU-Kommisionspräsident Juncker aus.
"Aber in Europa bei einer Bevölkerung von 510 Millionen findet man es in Ordnung, dass ein Mann, der ein sehr sehr ernstes Alkoholproblem hat, weiter im Amt bleibt. Das ist ein absoluter Skandal."

Er weiß, was sie hören wollen

Nicolaus Fest weiß, was seine Anhänger hören wollen. Die da oben wollen Euch nur Schlechtes!
"Ich wäre gern britisch!"
"Aber Deutschland ist doch der Haupteinzahler in der EU, ich glaube nicht, dass wir so viel davon haben. Wahrscheinlich wird der Ottonormalverbraucher gar nicht merken, wo diese EU-Gelder landen, vielleicht auf diesen brachliegenden Ackerflächen, aber das ist nicht das, was die Leute hier in der Umgebung brauchen. "Ich wäre gern britisch. Das war eine gute Antwort!"

Wie Jünger rausgehen und die Botschaft verbreiten

Alle nicken. Wahlkämpfer Fest weiß sehr genau, dass es den meisten hier nicht um Europa geht. Im Gegenteil. Immer noch würde ein Großteil der AfD-Mitglieder und –sympathisanten am liebsten aus der EU austreten. Aber für ihn, Nicolaus Fest, geht es um alles. Um ein Mandat. Um eine Rolle, die er öffentlich spielen kann: Europa-Abgeordneter der AfD.
"Sie müssen wie Jünger rausgehen und die Botschaft verbreiten, wir tun es ja für einen guten Zweck, wir tun es dafür, unsere Heimat so an unsere Kinder zu übergehen, wie wir es mal übernommen haben! Vielen Dank, ich muss jetzt was trinken."
Der Beifall ist dünn. Nicolaus Fest lässt sich nichts anmerken. Steht aufrecht. Haltung ist gefragt. Und doch gleitet sein Blick mißtrauisch durch die Stuhlreihen.
"Gute Fahrt! Danke, tschüß! Was hat das Mädchen gerufen, als wir gegangen sind, Nazis oder was?"
Eine junge Frau hat eilends den Saal verlassen. Was sie gesagt hat? Keiner hat es so richtig gehört. Zum Abschied hat Nicolaus Fest seinen Mantel in der Hand und einen Geschenkkorb.
"Da habe ich einen Zerbster Sekt und zwei Würste, Dauerwürste, finde ich zu schön."

Zweite Station: die Linkspartei

"Das fängt ja schon gut an hier!"
Mandy Eißing steuert ihren schwarzen Mini aus Erfurt raus. Alle Ampeln scheinen auf Rot zu stehen. Neben ihr sitzt Jana Schneider. Beide sind Mitarbeiterinnen von Martin Schirdewan. Der ist einer der beiden Linken-Spitzenkandidaten für die Europawahl. Er sitzt auf der schmalen Rückbank eingeklemmt und legt sein Handy kaum aus der Hand. Schirdewan wirkt noch fit. Erst einen Auftritt hat er heute hinter sich, eine knappe Ansprache in der Erfurter Fußgängerzone.
"Na, die Wochen gehen ineinander über, das ist 24/7 im Grunde genommen, wenn Wahlkampf ist. Früh raus, in die nächste Stadt, und dann beginnt das Programm, und dann fährt man halt von dort zur nächsten Stadt."
Nun geht es nach Jena. Seit Ostern geht das so, erzählt er. Und behauptet, es mache ihm wirklich Spaß.
"Ich mag das tatsächlich, mit Leuten zu reden, verschiedene Perspektiven aufs Leben mitzubekommen, deren Erfahrungen auch zu teilen und gemeinsam zu überlegen, was man politisch machen kann. Andererseits hat das auch was sehr Mobilisierendes, da ist Dynamik drin, man ist unterwegs; wir machen eine Bühnentour.

Wer Europa will, muss es den Reichen nehmen

Duisburg, Essen, Düsseldorf, Wuppertal hat er an einem Tag beackert, erzählt er stolz. Martin Schirdewan, 43 Jahre alt, promovierter Politologe, war erst Mitarbeiter eines Europa-Abgeordneten, später Leiter des Europabüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, und zog dann vor zwei Jahren als Nachrücker ins Europa-Parlament ein.
Er ist kein auffälliger Typ: mittelgroß, kurzes hellbraunes Haar, helle Augen. Unauffällige praktische Kleidung: schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt, Windjacke. Nichts, was auch langen Touren knittern könnte. Was heraussticht ist sein Nachname. Sein Großvater, Karl Schirdewan, war ein hoher SED-Funktionär, bis er bei Ulbricht in Ungnade fiel.
"Die Redaktion fragt noch mal an … Anne Will."

Beantworten und wegwischen

Laufend tauchen Nachrichten auf seinem Smartphone-Display auf, die er beantwortet oder wegwischt. Ein Spitzenkandidat muss Prioritäten setzen. Der Auftritt bei Anne Will ist wichtig. Schade, dass der Außenminister nicht dabei sein kann, meint er.
"Ja, das ist für diesen Sonntag, das wird interessant."
"Thema?"
"Iran stellt Ultimatum – wie gefährlich ist der Atomstreit für Europa? ist die Überschrift."
Aber erst mal geht es in die Niederungen des Freistaates Thüringen. Abfahrt Jena, die Fahrt hat ein bißchen zu lange gedauert, der erste Termin muss etwas geschoben werden. Schirdewan nimmt's gelassen. Raus aus dem Auto, dem Parkhaus. Frische Luft. Die Handys sind wieder aufgeladen.
Martin Schirdewan steht bei seiner Wahlkampftour in Jena auf der Bühne. Die Bierbänke davor sind nur dünn besetzt.
Nicht viel los ist bei Martin Schirdewans Wahlkampfauftritt.© Henry Bernhard
Begrüßung am Holzmarkt in Jena. Hier, wo sich Fußwege, Bus- und Straßenbahnlinien kreuzen, haben die Genossen vor Ort schon aufgebaut: den Wahlkampfstand mit Flyern zur Europa- und Kommunalwahl, die Bühne auf einem Kleintransporter, daneben ein Wohnmobil mit der Technik. Davor stehen ein paar leere Bierbänke. Schirdewan ist eher nach einem Kaffee als nach Small Talk zumute.
"Also erst mal Hallo!"
"Hallo!"
"Ich freue mich, Sie wieder zu sehen! Wir haben uns kennengelernt, als Frau Tittmann uns ihr Projekt vorgestellt hat. Das war sehr beeindruckend. Das war im Rahmen einer Tour, die ich in Thüringen gemacht habe, weil das ja quasi mein Wahlkreis ist als Europa-Abgeordneter, wo ich mir verschiedene LEADER-Projekte angesehen habe und geguckt habe, wie sich die Finanzierung der EU auf der lokalen Eben auswirkt."
LEADER ist ein europäisches Förderprogramm für den ländlichen Raum und Anett Tittmann Regionalmanagerin im Verein 'Ländliche Kerne'. Ihre Region, das "Holzland", profitiere sehr von den EU-Mitteln, erzählt sie. Über sieben Jahre verteilt bekommen sie 3,5 Millionen Euro aus Brüssel.

Thüringen profitiert von EU-Förderung

"Da geht es darum, dass man den Bürgern durchaus die Kompetenz überlässt, ihre Region selbst gestalten zu können und da eigene Ideen einzubringen. Zum Beispiel, dass man Infrastrukturen in den Dörfern halten kann – wie zum Beispiel Kita und Grundschule an einem Standort. So konnte man den Schulstandort erhalten, indem man ins Erdgeschoß die Kita reingebracht hat. Oder in Stadtroda, einer Kleinstadt hier in der Nähe, ist ein Bürgerbus initiiert worden von Rentnern, die jetzt mit einem Auto zwei Mal die Woche ältere Leute fahren.
"Und das sind halt Dinge, da merkt man: Da funktioniert europäische Förderung vor Ort. Und wie funktioniert sie? Gut – an dieser Stelle!"
Seit Jahren führen wir einmal im Jahr eine Schülerwerkstatt durch, weil wir sagen: Jugendliche, die sich in ihrem Dorf, in ihrer Region engagieren, kommen vielleicht nach Ausbildung und Studium wieder zurück und übernehmen wieder Verantwortung hier. Die Jugendlichen kommen, stellen ihre Projekte vor und bewerten sie anhand der Kriterien: Ist das jetzt interessant für die Jugend? Können da ganz viele von profitieren? Wie zum Beispiel ein Mehr-Generationen-Spielplatz, wo sie einen Bauwagen mit Graffiti besprüht haben – so kleinere Dinge.

Wahl-Aktionstag mit Radtour

Anett Tittmann begeistert sich für ihr Projekt, das spürt man in jedem Satz, in ihrem Lächeln. Bei der letzten Europa-Wahl lag die Beteiligung hier bei 58 Prozent - immerhin sechs Prozentpunkte mehr als im Landesschnitt. Zur diesjährigen Wahl planen sie einen Wahl-Aktionstag mit Radtour, um noch mehr Wähler anzulocken. So viel Begeisterung für Europa wiederum erlebt Schirdewan selten. Und doch müsse man den Menschen immer wieder klar machen, wie sehr sie von der EU profitieren. Gerade im Kleinen, glaubt Schirdewan.
"Da muss man tatsächlich Transparenz schaffen, was da passiert, woher das Geld stammt. Und das ist eben genau auch die Art und Weise, wie man europäische Politik vermitteln muss: Dass man eben Offenheit herstellt und guckt, wie sich Politik im Alltag der Menschen auswirkt. Und gerade da, wo Strukturfonds wirken und Regionalmittel zur Anwendung kommen, da ist, glaube ich, die Erfahrbarkeit von europäischer Politik noch am größten. Und da ist auch die Einstellung auch am positivsten zum europäischen Integrationsprozess."
Anett Tittmann ist da skeptischer: "Das ist immer sehr schwer zu vermitteln! Es wird immer wieder genannt. Wenn man aber die Leute dann fragt, ist es ganz schwierig zu verstehen, dass das EU-Mittel sind und dass sich die EU hier darum bemüht, ganz viel Bürgerbeteiligung, demokratische Prozesse anzuschieben. Und das muss man immer wieder sagen und immer weiter aktiv sein; deswegen ist es wichtig, dass wir da weiter dran bleiben."

Zehn Rentner und ein Rapper aus Bielefeld

Dazu sagt Schirdewan dann nichts mehr. Die Bühnenshow beginnt. Ali Safari, ein mäßig bekannter Rapper aus Bielefeld, versucht, die zehn Rentner, die inzwischen auf den Bierbänken Platz genommen haben, in Schwung zu bringen. Immerhin: Sie bleiben sitzen.
"Ja, Applaus für Ali Safari aus Bielefeld! Na kommt, ein bißchen mehr! Und jetzt bitte ich auf die Bühne Martin Schirdewan, linker Europa-Parlamentarier."
Schirdewan spricht über Digitalisierung, über Bildung, Gesundheit, Pflege, über die großen Steuer-Betrugsskandale der letzten Jahre. Begeisterung kommt da nicht auf. Kleine, bürgernahe Projekte wie das von Anett Tittmann spielen keine Rolle auf der Bühne. Da geht es um das große Ganze. Um Frieden, Gerechtigkeit und Umverteilung. Die vielleicht 20-30 Zuhörer sind meist ältere Leute, viele noch aus der SED-Vergangenheit der Partei, aber auch einige junge stehen interessiert dabei. Laufkundschaft kommt wenig. Renate Hölzel hört interessiert zu.
"Die Europa-Wahl ist ein großes Thema! Aber ich habe so die Bedenken, dass ein Großteil der Leute, mit denen ich so gesprochen habe, so Vorbehalte haben und sich zurückziehen. Ich denke aber, die Europa-Wahl ist ganz wichtig! Und ich werde auf jeden Fall wählen gehen und hoffe auch, dass wir starke Kräfte dort sammeln und bündeln können und dass vielleicht eine große Gemeinschaft doch entsteht gegen alle Widersprüche."
Wenn sie mit ihren Bekannten über die Flüchtlinge aus Syrien rede und darauf dringe, dass das Fremde doch eine Bereicherung und keine Gefahr sei, hörten ihr viele einfach nicht mehr zu, bedauert die 85 Jahre alte Frau.
Auch Martin Schirdewan findet: Das Interesse an der Europa-Wahl könnte durchaus noch zunehmen. Dass nur wenige Leute da seien, will er aber nicht gelten lassen. Er zeigt auf den Infostand auf der anderen Straßenseite. Drüben bei der SPD seien ja noch viel weniger!

Barley macht Wahlkampf im Regen

Aachen, ein regnerischer Nachmittag im Mai. Auf dem Münsterplatz mit Blick auf den Dom hat die SPD eine kleine, runde Bühne aufgebaut. 50 bis 60 Menschen in Regencapes und mit Schirmen warten hier – auf Katarina Barley, Spitzenkandidatin der SPD.
"Ausgerechnet jetzt muss es regnen."
"Na klar, jetzt muss es regnen, ne, da sagen sie was."
Sie, die Spitzenkandidatin, ist gerade auf dem Weg zur Bühne. Leichten Schrittes läuft sie an Bierbänken vorbei, eine rote Bluse leuchtet unter der dunkelblauen Jacke hervor. Dann stoppt sie, wie selbstverständlich, für eine ältere Dame, die um ein Autogramm bittet.
"Soll ich irgendwas draufschreiben?"
"Hanni"
"Für Hanni? Das mache ich gerne. … Ja, ist ja toll, dass sie sich überhaupt in dem Regen hier hin stellen."
Katarina Barley bei ihrem Auftritt in Aachen.
Wahlkampf im Regen: Katarina Barley bei ihrem Auftritt in Aachen.© Viven Leue
Fotografen halten den rührenden Moment fest. Der wirkt fast ein bisschen kitschig. Barley aber lässt sich nicht beirren, lächelt nicht in die Kameras, sondern die Frau an und geht dann auf die Bühne.
"Ich darf Katarina Barley begrüßen. Schön, dass du bei uns in NRW bist, schön, dass du in Aachen bist."
Barley ist die Tochter eines Engländers und einer Deutschen – daher ihr englischer Name, der häufig falsch ausgesprochen wird. Auch jetzt wieder. Aber die Spitzenkandidatin zuckt nicht einmal.
"Katarina bringt ihre Leidenschaft für Europa mit einer Herzenswärme rüber, dass man sagen kann: Ja, das ist gelebtes Europa."

Eine Frau mit einer europäischen Biografie

Herzenswärme, Leidenschaft, überzeugte Europäerin. Worte, die an diesem Nachmittag auch bei vielen ihrer Parteifreunde fallen, wenn sie später am SPD-Stand über Katarina Barley sprechen. Auf einem Biertisch unter einem Zeltdach liegen Flyer, Autogrammkarten, Europa-Sticker.
"Ich schätze sie sehr und ich finde, sie kommt auch bei den Leuten sehr gut an, sie kann das sehr überzeugend rüber bringen."
"Katarina Barley hat das Herz am rechten Fleck."
"Sie hat ja eine europäische Biografie, die tatsächlich verdeutlicht, dass sie Europa auch lebt."
Ihr Ex-Mann ist halb Niederländer, halb Spanier. Die beiden Söhne haben Großeltern aus vier europäischen Ländern. Und Barleys jetziger Partner, ein niederländischer Basketballtrainer.
Wenige Stunden zuvor. Kurze Verschnaufpause. Barley sitzt mit ihren Mitarbeitern beim Mittagessen. Ein paar Journalisten dürfen danach für ein Interview vorbei kommen. Warum will sie Berlin gegen Straßburg tauschen?
"Weil ich gerne meiner Partei zu einem guten Ergebnis verhelfen möchte, weil ich finde, dass die Sozialdemokratie derzeit weiter unter Wert rangiert."
Das stimmt. Bei der Landtagswahl in Hessen unter 20 Prozent, in Bayern sogar unter 10 Prozent - ein fast vernichtendes Ergebnis.
"Ich war mir ja sehr klar darüber, was da auf mich zukommt. Ich habe mir das auch nicht leicht gemacht."
Aber Europa, erklärt Barley, brauche jetzt mehr denn je eine sozialdemokratische Handschrift. Daran will sie mitarbeiten, sagt sie und wirkt fast, als spräche sie über ihren nächsten Urlaub: Voller Vorfreude und Tatendrang.

Steile Polit-Karriere

"Ich liebe den Wahlkampf, weil das die Zeit ist, wo man viel stärker als sonst über Politik auch wirklich reden kann. Deshalb ist das jetzt eine schön, wenn auch sehr anstrengende Zeit."
Dass sie das ernst meint, zeigt sich zwei Stunden später. Barley steht jetzt auf der Bühne mit dem Mikro in der Hand. Wieder dieser freudige Blick, diesmal ins Publikum. Natürlich: Dieses Publikum, hier in der Europa-Stadt Aachen, ist ihr wohlgesonnen. Auf die großen Kritiker Europas und der Volksparteien stößt sie vielleicht eher in Magdeburg oder Schwerin. Aber auch damit kann sie umgehen, sagt sie – und man glaubt es ihr.
Hier in Aachen ist ihr Ton eher leise, gesprächig, nie rebellisch, aggressiv-kämpferisch oder überheblich.
"Und ich sage ihnen auch gleich, ich werde Ihnen jetzt nicht so wahnsinnig viel hier von vorne aus erzählen. Weil, ich mache ja noch nicht so lange beruflich Politik, erst seit so fünfeinhalb Jahren. Und mich hat das immer total genervt, wenn Leute hier vorne standen und erzählt haben, was sie für richtig halten und es kam kein Dialog zustande."
Natürlich kokettiert Katarina Barley mit diesen fünfeinhalb Jahren. Es stimmt zwar, erst seit 2013 sitzt die promovierte Juristin und ehemalige Richterin im Bundestag. Aber seitdem hat sie eine steile Polit-Karriere hingelegt. SPD-Generalsekretärin, Bundesfamilienministerin und jetzt Justizministerin. Ohne solche Koketterie, Dramaturgie, ohne ein wenig Theater kommt ein Wahlkampf nicht aus – das weiß auch Barley.
"Vielmehr Europa als mich zu finden, das wird schwierig. Wenn jemand hier ist, der möge sich dann bitte nachher melden."

Ein Plädoyer für Europa

Es folgt ihr Plädoyer für Europa. Die Worte Schicksalswahl, Richtungsentscheidung, Nationalisten, Egoisten fallen.
"Populisten, die überhaupt keine Scheu haben, alles zu zerschlagen, was man aufgebaut hat über Jahrzehnte, aber die überhaupt keine Lösung haben, überhaupt keine Pläne."
Die SPD dagegen hat Pläne. Europa müsse sozialer werden, es reiche nicht, eine Wirtschaftsunion zu sein. Auf den Bierbänken zustimmendes Nicken.
Barley spricht vom europäischen Mindestlohn, von Sozialstandards, einem einheitlichen Steuersatz. Und dann ist sie schon fertig. Nach gerademal einer Viertelstunde fordert sie die Zuhörer auf, selbst auf die Bühne zu kommen.
"Bitte haben sie wirklich keine Scheu. Und keinerlei Sorge – ich freue mich auch über jeden Input, den ich kriege."
Das Format ist ungewöhnlich, auch für die SPD. Nicht aber für Katarina Barley. Sie will wissen, was die Bürger zu sagen haben. Zögerlich tritt eine Frau auf die Bühne.
"Ähm… ja, ich habe gesehen, die SPD plakatiert mit Klimapolitikpolitik, da hätte ich gerne mal gehört, wie da die Position … hier in Aachen, Hambacher Forst ist ja auch ein Thema, was viele Menschen hier bewegt, was da die Position der SPD ist?"
"Vielen Dank, mir fällt jetzt auch - Bleiben Sie ruhig hier! – Mir fällt jetzt ein – Bleiben Sie ruhig hier oben – Mir fällt ein, ich habe einen wichtigen Teil meines Intros vergessen, nämlich dass die großen Herausforderungen, wir die aktuellen Herausforderungen nur europäisch überhaupt bewältigen können und der Klimaschutz gehört da natürlich ganz vorne mit dazu."
Barley blickt ihre Gesprächspartnerin an, antwortet ihr, erzählt von CO2-Grenzwerten, Atomstrom und wie andere Länder damit umgehen. Auch auf die Landwirtschaft geht sie ein – Subventionen nur noch wenn der Umweltschutz eingehalten wird, sagt sie – und erntet Beifall. Zum Hambacher Forst sagt sie nichts, doch das haben das Publikum und die Fragerin offenbar vergessen.

Es geht um China, Flüchtlinge und den Regionalexpress

Andere sprechen konkrete Probleme im Alltag an. Aachen ist ein Dreiländer-Eck. Die Niederlande und Belgien – ein Katzensprung. Doch wer in einem Land wohne, aber in einem andere arbeite, habe kein Anrecht auf die dazugehörigen Sozialleistungen, ärgert sich eine Frau. Barley, die mittlerweile ihr Publikum duzt, bietet ihre Unterstützung an.
"Ich weiß nicht, ob sich einer meiner Mitarbeiter mal mit dir in Verbindung setzen kann, wegen der ganz konkreten Fragen, weil wenn das so ist, das ihr da tatsächlich Beiträge zahlt, dann müsst ihr auch was davon haben, ist ja ganz klar, aber vielleicht kannst du mir den Einzelfall dann nochmal schildern, kümmert ihr euch drum, ja?"
Die EU – ein komplexes Regelwerk. Wie es konkret funktioniert, kann auch eine SPD-Spitzenkandidatin nicht immer beantworten. Mehr als eine Stunde lang beantwortet Barley Fragen. Es geht um China und die Aufnahme von Flüchtlingen, um Hebammen und den grenzübergreifenden Regionalexpress. Barley hört zu, nickt, erklärt, nippt zwischendurch an einem Glas Tee.
Dann stürmen ihre Parteigenossen die Bühne, auch Martin Schulz, Ex-SPD-Chef und Ex-SPD-Spitzenkandidat für die Bundestagswahl.
"Katarina, schnell ein Foto mit dem Arndt und mir? Weil, wir müssen weiter."
"Ja, komm."

Und was ist mit den Uploadfiltern?

Barley muss auch weiter, ihr Mitarbeiter hält schon ihren Mantel im Arm. Aber Barley bleibt noch.
"Frau Barley, ich würde gerne was aufnehmen… nur kurz."
"Ja, komm hoch."
"Bezüglich des Artikels 13, wie würden Sie sich äußern?"
"Also zu Artikel 13 muss man wissen…"
Bei der Urheberrechtsreform war Artikel 13 besonders umstritten. Vielleicht nimmt sich Barley darum Zeit, spricht in das Handy des jungen Mannes, erklärt, warum sie als Justizministerin den Upload-Filter nicht verhindern konnte und was das mit Europa zu tun hat.
"Es wäre gut, wenn man das nicht nur schwarz und weiß sieht, ne?
Ihr Mitarbeiter tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen…
"Ich muss, ne?"
… und nickt. Aber dann kommt noch ein junger Mann, der über Artikel 13 reden will.
"Ich möchte Dir jetzt keine Wahlkampftipps geben, aber…"
"Nein, dafür bin ich doch hier."
Inzwischen sind alle Fotografen weg, die Presse hat ihre Wahlkampf-Töne, keiner möchte mehr Fotos von Katarina Barley. Und sie: Bleibt bei diesem jungen Mann stehen und hört zu.
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