Soziologie

Zu Max Weber durch die Hintertür

Alte Bücher in einem Regal
Die Werke von Max Weber haben die Kultur- und Sozialwissenschaft maßgeblich geprägt. © Jan-Martin Altgeld
Von Ernst Piper · 26.07.2014
In seinem Buch über Max Weber nähert sich Dirk Kaesler dem bedeutenden Soziologen auf Umwegen. Er braucht einen enormen Anlauf, ehe er zur Sache kommt. An die Biografie des Historikers Joachim Radkau reicht die Arbeit nicht heran.
Das erste Kapitel dieses Buches trägt den Titel "Die Bühne wird bereitet". Es beginnt mit einem Vorwort, das lediglich aus einem Dostojewski-Zitat besteht, das sich über die ganze Seite erstreckt. Wenn der geneigte Leser umblättert, erwartet ihn - unter der Überschrift "Vor dem Vorhang" ein weiteres langes Zitat, diesmal aus Goethes "Faust". Erst dann ergreift der Autor selbst das Wort:
"Die Geschichte, die hier erzählt wird, spielt, oder, um jedes Präsens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt, vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem Großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. Vorher also spielt sie, wenn auch nicht mehr lange vorher. Und ein klein wenig danach, aber nicht mehr lange danach."
Hier wird schon die erzählerische Grundhaltung des Autors deutlich. Er braucht einen enormen Anlauf, ehe er zur Sache kommt. In einer gewollt altmodischen und umständlichen Sprache und mit großer Ausführlichkeit werden alle Hintergründe ausgeleuchtet. Die Familiengeschichte nimmt breiten Raum ein. Dem Buch sind vier Stammtafeln beigegeben, die bis ins Jahr 1736 zurückreichen. Der Leser, der den nötigen langen Atem mitbringt, erfährt viel über das Preußen des 19. Jahrhunderts. Viel auch über Max Weber senior. Wie sein heute viel berühmterer Sohn war Weber senior promovierter Jurist. Er war ein führendes Mitglied der Nationalliberalen Partei, die er mehrfach im Preußischen Abgeordnetenhaus und einmal auch im Deutschen Reichstag vertrat.
Das Buch verzichtet vollständig auf Anmerkungen
Auf Seite 387 angekommen, wird man dann mit der – wie gewohnt detailreich erörterten – ersten akademischen Station Max Webers belohnt, der Berufung nach Freiburg im Breisgau. Jürgen Kaube, von dem in diesem Frühjahr ebenfalls eine Weber-Biografie erschienen ist, erreicht diese Lebensstation schon nach 120 Seiten. Dirk Kaesler bleibt der auf den persönlichen Lebensgang konzentrierten Perspektive treu, auf das Kapitel "Der Herr Doktor" folgt nun "Der Herr Professor", aber natürlich wird auch das Werk dieses Gründungsvaters der Soziologie in den Blick genommen. Dabei offenbart sich ein Grundproblem des Buches.
So gibt es ein vergleichsweise kurzes Unterkapitel zu Webers berühmter Schrift "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus", das zu mehr als der Hälfte aus Zitaten besteht. Diese Blütenlese gibt dem Leser aber keine wirkliche Orientierung, weil Kaesler aus "stilistischen Gründen" vollständig auf einen Anmerkungsapparat verzichtet hat. Es gibt in dem ganzen Buch keine einzige Anmerkung, weder zum Nachweis von Tatsachenbehauptungen noch für Textzitate, sodass der interessierte Leser nicht in die Lage versetzt wird, im Original selbst weiterzulesen. Der Nutzwert des Buches ist dadurch erheblich beeinträchtigt.
Das bedeutsamste geschichtliche Ereignis in Max Webers Lebenszeit war der Erste Weltkrieg. Diesem gelingt es als einzigem, den persönlich-biografischen Erzählfluss zu unterbrechen. Wie die große Mehrzahl der Repräsentanten des deutschen Kultur- und Geisteslebens hatte auch Weber teil an der patriotischen Erregung nach dem 1. August 1914. An seinen Kollegen, den Soziologen Ferdinand Tönnies schrieb er einige Wochen nach Kriegsausbruch:
"Dieser Krieg ist bei aller Scheußlichkeit doch groß und wunderbar, es lohnt sich, ihn zu erleben - noch mehr würde es sich lohnen, dabei zu sein, aber leider kann man mich im Feld nicht brauchen, wie es gewesen wäre, wenn er rechtzeitig - vor 25 Jahren - geführt worden wäre."
Lebenswandel vom Imperialisten zum Liberalen
Die Brüder ziehen ins Feld, Max Weber selbst ist zu alt dazu, sodass er, wie Kaesler es prägnant formuliert, "zu seinem großen Schmerz nicht auf Franzosen schießen darf". Zu Beginn des Krieges ist Max Weber, der in den 1890er-Jahren im Alldeutschen Verband aktiv gewesen war, ein Imperialist, der auch vor rassistischen Forderungen nicht zurückschreckte. Doch mit der Zeit wandelt er sich. Als am 4. Dezember 1917 als Widerpart zur reaktionären Deutschen Vaterlandspartei der bürgerlich-liberale Volksbund für Freiheit und Vaterland gegründet wird, ist Weber dabei. Und als am 16. November 1918 die liberale Deutsche Demokratische Partei gegründet wird, gehört Max Weber ebenso zu den Gründungsmitgliedern wie sein Bruder Alfred.
Max Weber war auch bereit, sich für die Weimarer Republik zu engagieren. Am 28. Januar 1919 hielt er in München seinen berühmten Vortrag "Politik als Beruf", aus dem bis heute immer wieder zitiert wird. Etwa der Satz "Politik ist das lange und langsame Bohren dicker Bretter." Weber hatte dabei sicherlich das Schicksal des eigenen Vaters vor Augen, wenn er etwa schrieb, Politik bedeute, sich mit den diabolischen Mächten einzulassen, die in jeder Gewaltsamkeit lauern. Dirk Kaesler bemerkt dazu:
Cover: "Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn" von Dirk Kaesler
Cover: "Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn" von Dirk Kaesler© C. H. Beck
"Sein Vater konnte es, er selbst durfte nicht."
Am 14. Juni 1920 starb Max Weber, dessen Lebensgeschichte immer auch eine Krankengeschichte gewesen war, im Alter von 56 Jahren. Manche seiner Zeitgenossen waren der wohl nicht unberechtigten Meinung, dass der soeben gegründeten ersten deutschen Demokratie damit eine ihrer größten politischen Begabungen verloren ging.
Dirk Kaesler schildert im letzten Kapitel seiner Biografie die Situation in München, Webers letzter Lebensstation, und wendet sein Interesse noch einmal dem Familiensystem zu, namentlich den Frauen, die in Webers Leben eine entscheidende Rolle spielten: der Mutter, der Ehefrau, der Geliebten.
Ein schlankes Buch von mehr als 1.000 Seiten?
Der emeritierte Soziologe hat sich Jahrzehnte lang mit Max Weber und seinem Werk auseinandergesetzt. Er ist ein eminenter Kenner und hat im Lauf der Zeit mehrere Bücher vorgelegt, darunter eine Einführung von Leben, Werk und Wirkung, die der Campus Verlag jetzt neu aufgelegt hat, und einen schmalen Band in der Reihe Beck Wissen. Und doch stammte bisher die maßgebliche große Max-Weber-Biografie von dem Historiker Joachim Radkau. Dieses Werk zu übertreffen, muss für Kaesler eine große Versuchung gewesen sein, zumal mit Max Webers 150. Geburtstag ein veritabler Anlass gegeben war.
Wenn der Leser am Ende eines langen Weges auf Seite 1007 von Kaesler Biografie angekommen ist, liest er dort in der Danksagung mit einiger Überraschung, dass der Autor seiner Lektorin dafür dankt, dass "das ursprüngliche Manuskript sehr viel schlanker und dadurch eleganter wurde". Ein Buch von mehr als 1.000 Seiten als schlank zu bezeichnen, zeugt von einiger Kühnheit.
Wer es etwas handlicher haben möchte, ist mit der Max-Weber-Biografie des FAZ-Journalisten Jürgen Kaube womöglich besser bedient, wobei beide Bücher Stärken und Schwächen haben und Radkaus Opus magnum nicht zu entthronen vermögen.

Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie
C. H. Beck, München 2014
1.008 Seiten, 38 Euro

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